Wege und Ziele
09.09.2020
Auf «Buiräbähnli-Safari» im Engelbergertal
Die privaten Kleinseilbahnen in der Innerschweiz sind Lebensnerv und Kulturgut.
Das Tal liegt noch im Schatten, aber beim Berghof von Ueli und Isabelle Schmitter ist es sonnig, die Welt offener, heller, breiter als unten im Talboden in Wolfenschiessen, dort unter jenen hohen Felswänden, durch die es nicht einmal einen Fussweg gibt. Schmitters Draht zur Welt ist ihre private Luftseilbahn, ohne die sie auf ihrem Hof nicht leben könnten. Es gibt zwei Kabinen, jede nimmt vier Personen mit oder 400 Kilogramm Last. Wenn Ueli Schmitter die Kabine abmontiert, trägt das Gehänge 1000 Kilogramm. Die Kinder fahren mit der Seilbahn zur Schule, jede Schraube auf dem Hof, jeder Dachziegel, jede Pfanne in der Küche ist mit der Bahn hochgefahren, der Traktor zerlegt, genauso wie der eigene Bagger, und oben sorgfältig wieder zusammengebaut. Ueli Schmitter ist als Bauer auch Schreiner, Zimmermann und Mechaniker.
Stall mit Bahnanschluss: Die Seilbahn ist für viele Innerschweizer Bauern mindestens so wichtig wie der Traktor.
Schmitters betreiben eine von noch etwa 25 Kleinbahnen in den Halbkantonen Nid- und Obwalden. Doch ein grosser Teil der Kleinbahnen, Ueli Schmitter schätzt ihn auf zwei Drittel, ist in den letzten Jahrzehnten verschwunden. Wer braucht noch Seilbahnen, wo es doch Helikopter gibt? Zudem vertragen sich die beiden Systeme nicht. Immer wieder verheddern sich Helis in Drahtseilen. So sind in den letzten Jahren Seilbahnen systematisch demontiert worden, ebenso wie viele kleine Lastenaufzüge oder die Heuseile, an denen die Bauern Heuballen, Gepäck und hin und wieder auch Kinder mit charakteristischem Surren und bis zu 100 km/h schnell ins Tal sausen liessen.
Verschwunden sind damit nicht nur kleine technische Wunderwerke, sondern auch ein wichtiges Stück alpine Kultur. Ueli und Isabelle Schmitter kämpfen deshalb gemeinsam mit andern Bähnchenbetreibern für den Erhalt ihrer Bahnen – und damit auch für ihre Existenz auf dem Berghof hoch über dem Tal. Während in der Ebene Anfang des 20. Jahrhunderts technikbegeisterte Bauernsöhne mit Namen wie Fendt, Aebi oder Hürlimann an Traktoren bastelten, erfanden die Innerschweizer Bauernkinder Seilbahnen – erst mit zusammengelöteten, immer längeren Drähten und später mit immer einfachen, zweckmässigen Aufzugssystemen. Das Nidwaldner Dialektwort für «Seilbahn bedienen» ist deshalb noch immer «drahtnen», während die Urner «seilen» sagen. Und auch das Design der Bahnen ist einheimisch. Legendär ist das Niederberger-Schiffli, eine minimalistisch-elegante Kabine mit Lastplattform.
Die Bauernbähnchen oder «Buiräbähnli», wie sie hier genannt werden, wurden schon immer touristisch genutzt. Viele funktionieren automatisch, Tag und Nacht, wie ein Lift. Passagiere drücken auf einen Knopf, bis eine Glocke ertönt, und dann geht’s los. Bei anderen ist ein Anruf nötig, manchmal sogar mit einem altertümlichen Kurbeltelefon. Bezahlt wird ausschliesslich mit Bargeld in ein Kässeli. Ob Wanderer, Skitourengänger oder bei Ueli Schmitter sehr oft auch Gleitschirmflieger, alle sind willkommen. Seit einigen Jahren bieten die Buiräbähnli-Betreiber nun gemeinsam mit Engelberg-Titlis Tourismus die «Buiräbähnli-Safari» an. Die Safari ist eine Wanderung über zwei oder drei Tage mit insgesamt 12 bis 14 Stunden Marschzeit. Im Ticket sind Fahrten mit acht privaten Seilbahnen inbegriffen, wobei die Gäste auf der Route einfach statt Geld den entsprechenden Coupon aus dem Bähnlipass in die Kasse werfen. «Viele Gäste wandern nicht die ganze Route an einem Stück ab», sagt Ueli Schmitter. «Sie machen vielleicht die Hälfte im Sommer und die andere Hälfte ein andermal im Herbst.»
Die Bauern auf der Safari-Route sind auf Gäste vorbereitet, mit Verpflegung und Nachtlager.
Seilbahnen als Selbstbedienungs-Transportmittel. Bezahlt wird cash in die Kasse, anrufen, losfahren.
Dank den Buiräbähnli gelangen Wanderer schnell in die Höhe und können angenehm knieschonend wieder ins Tal hinunterfahren.
Die Bauern auf der Route haben sich entsprechend eingerichtet. Sie bieten den Wanderern Unterkunft und Verpflegung und wissen auch, wo es im Moment besonders schön ist, wo noch Schnee liegt, wie die Thermik für die Gleitschirmflieger ist und wo gerade Wild unterwegs ist. Auf der Route liegen nebst den Höfen auch Hotels, aber auch Alpen, die Käse herstellen, oder die Brunnihütte des Schweizer Alpen-Clubs (SAC). Auch Schmitters betreiben ein Gästehaus mit Mehrbettzimmern, wo Gruppen selber kochen können. Eine Alphütte steht ebenfalls zur Vermietung.
Für die Bauern mit ihren privaten Seilbahnen ist die touristische Nutzung wichtig, weil sie einen Beitrag an den für den Hof lebenswichtigen Unterhalt der Bahnen leistet. Schmitters betreiben eine Mutterkuhhaltung mit Dexter-Kühen. Sie sind klein und beweglich, im Gegensatz zu den in den letzten Jahren immer grösser und schwerer gewordenen einheimischen Rinderrassen. Das macht die Tiere ideal geeignet für die steilen Hänge. Sie sind berggängig, genügsam, pflegen die mageren Wiesen und erzeugen keine Erosion – und ergeben hervorragendes Gourmet-Biofleisch. Zudem züchtet Isabelle Schmitter Ponys, auch sie ideal geeignet für diese steile Welt. Doch die Einnahmen aus dem touristischen Betrieb werden immer wichtiger. Sie betragen bei vielen Bauernbetrieben mittlerweile etwa ein Drittel des Umsatzes.
Trotz der Nähe der Bauern und ihrer Bahnen zum Tourismus besteht ein entscheidender Unterschied. Die meisten grossen Seilbahnen in den Schweizer Feriendestinationen wurden ausschliesslich für den Tourismus gebaut. In der Zwischensaison sind mit Ausnahme der Titlisbahn in Engelberg nur wenige in Betrieb. Doch wenn sie fahren, ist der Kunde König. Die Buiräbähnli dagegen sind immer in Betrieb und sind Teil der privaten Welt der Bauern. Sie sind der Vorraum ihrer Wohnungen, und am Morgen legt in Wolfenschiessen die Pöstlerin die Post für Schmitters nicht in den Briefkasten, sondern in die Seilbahnkabine. Wann immer jemand an einer bedienten Bahn läutet und fahren will, lassen Bäuerin oder Bauer die Arbeit fallen. Das ist nicht selbstverständlich. «Je mehr sich die Leute bewusst sind, dass wir eben kein typisches Tourismusunternehmen sind, sondern dass sie mit der Bahn einen privaten Raum betreten, desto näher kommen sie zu uns, und desto mehr erfahren sie über unser Leben», sagt Ueli Schmitter – ganz im Sinne des Sprichworts: Fühlt euch wie zu Hause, aber vergesst nicht, dass ihr zu Besuch seid – hier oben in der Sonne, hoch über dem Schatten des Talbodens.
Die klassischen Kleinseilbahnen haben meist eine Kabine mit Platz für Passagiere und eine angebaute Lastplattform.
Bergbauern sind immer auch Techniker und Mechaniker.
Viele Bauernbetriebe im Engelbergerrtal könnten ohne ihre Seilbahn nicht überleben.
Die «Buiräbähnli» sind eine ideale Ergänzung zur touristischen Infrastruktur.
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