Energieanwendung

10.03.2022

Der Léman und seine grossen Segelschiffe

Menschen, Wein, Käse, Vieh, Holz und sehr viele Steine – die Segelbarken auf dem Genfersee waren während Jahrhunderten das wichtigste Transportmittel.

zVg La Demoiselle, Association La Barque des Enfants
top image
Die «Demoiselle» ist ein originalgetreuer Nachbau einer traditionellen Léman-Barque.

Der Genfersee (Lac Léman) ist ein sehr ruhiges Gewässer. Seine leichten Winde und die steilen Ufer rundherum, aber auch die Metropole Genf mit ihrem Hunger nach Nahrungsmitteln sowie Brenn- und Baumaterial haben einen ganz besonderen Schiffstyp entstehen lassen: die Genferseebarken mit ihren riesigen Lateinersegeln – grossen dreieckigen Segeln, mit denen es in Europa etwa ab dem 16. Jahrhundert erstmals möglich war, gegen den Wind aufzukreuzen. Im Laufe von 250 Jahren wurden am Ufer des Léman rund 200 dieser Boote gebaut: die «Camions du Lac», die Lastwagen des Sees. Die meisten waren grosse Schiffe von etwa 30 Meter Länge, eines erreichte sogar 50 Meter. Die Frachtkapazität der Segler betrug zwischen 60 und 225 Tonnen. Sie transportierten fässerweise Wein, Brennholz für die Öfen und Kochherde der Stadt Genf, Vieh, Passagiere, Gruyère-Käse für die französische Flottenbasis in Toulon und sehr viele Steine.

Jeder Stein in Genf

Um die Jahrhundertwende waren trotz Eisenbahnen und Dampfschiffen noch immer etwa 60 Barken auf dem See unterwegs. Sie transportierten jeden einzelnen Stein, der in Genf verbaut wurde – von den Steinbrüchen in Meillerie am französischen Südostufer des Sees unmittelbar an der Grenze zum Wallis bei St-Gingolph mehr als 80 Kilometer übers Wasser bis zur Baustelle. Zu jener Zeit wurde in Genf auch die neue Uferpromenade gebaut – und dem See am Nord­ufer ein kilometerlanger Landstreifen von 400 Meter Breite abgetrotzt. Alles Material für diesen Landgewinn kam per Segelschiff. Die Barken transportierten unter Deck die empfindlichere Fracht und auf dem Deck die Massenware. Die Decks hatten kein Schanzkleid und waren so flach, dass man sie vom Ufer aus sogar mit Pferdekarren befahren konnte – die Vorläufer der modernen Containerschiffe. Die Steinschiffe dagegen waren offene Tröge, ähnlich den heutigen Schüttgutfrachtern – innen mit Ketten zusammengehalten, damit sie beladen nicht auseinanderbrachen.

Rennen über den ganzen See

Oft waren sie so schwer beladen, dass der Freibord nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragte – und schon eine kleinere Welle oder ein auffrischender Wind den Untergang bedeuten konnte. Die Kapitäne fuhren mit vier bis fünf Mann Besatzung, den Bateliers. Je nach Wind waren zwei bis drei Fahrten pro Woche möglich. Am Sonntag lagen fast alle Barken in den Häfen von Meillerie und St-Gingolph vor Anker, bereits am Samstag von den Steinbrucharbeitern beladen mit einer neuen Ladung für Genf. Die Bateliers hatten pro Tag Anspruch auf fünf Liter Wein, und im Lauf des Sonntags suchten die Kapitäne ihre Leute in den Kneipen von Meillerie zusammen. Sobald die Uhr am Kirchturm Mitternacht schlug, war die sonntägliche Ruhe zu Ende, und die Barken setzten Segel – alle gleichzeitig, eine Wolke aus Tuch auf dem See im Rennen um die besten Anlegeplätze in Genf.

Das Ende der Lastenseglerei kam mit dem Ersten Weltkrieg. Die meisten Bateliers waren Franzosen, und viele von ihnen kamen im Krieg um. Trotzdem waren in der Zwischenkriegszeit noch viele Segelschiffe auf dem See unterwegs. Allerdings wurde das grösste Genfer Bauprojekt der Zwischenkriegszeit, der Völkerbundpalast, zwischen 1929 und 1938 als Betonstruktur gebaut. Das bedeutete weitgehend das Ende des Steinetransports auf dem See. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lastenseglerei definitiv am Ende. Es gab nur noch wenige Barken, oft kaum mehr schwimmfähige Wracks. Der Beton hatte die Steinblöcke ersetzt, und die letzten Boote sanken langsam an ihren Liegeplätzen.

Die grössten Lateinersegel der Welt

Doch ab den 1960er-Jahren begann man, die schwimmenden Denkmäler zu schützen und zu restaurieren. Mittlerweile gibt es wieder fünf Barken auf dem Genfersee: zwei ursprüngliche Schiffe, an denen zumindest noch ein paar Bolzen und Holzlatten original sind, und drei Nachbauten wie die «Demoiselle» (vgl. Kasten), zudem eine rund 55 Meter lange Galeere. Mittlerweile wurde bei der UNESCO ein Antrag auf Aufnahme der Segelbarken des Genfersees ins immaterielle Weltkulturerbe beantragt. Sie sind die grössten Segelschiffe der Welt mit lateinischen Segeln. Regelmässig treffen sie sich, segeln gemeinsam und pflegen die Tradition der Lateinersegel des Genfersees, der «voiles latines du Léman».

Auf dem Genfersee sind schwache thermische Winde vorherrschend. Die riesigen Lateinersegel werden deshalb bei Fahrt vor dem Wind (Wind von hinten) über Kreuz gesetzt.
Die Barken konnten auch im flachen Wasser navigieren. Hier versteckt sich «La Demoiselle» im alten Flusslauf der Rhone, des «Vieux Rhone».

Ein Segelschiff für die Jugend

Christian Reymond ist der Kapitän der Barke «La Demoiselle», pensionierter Primarlehrer, passionierter Segler und unerschöpfliche Quelle für Geschichten um und über den Léman. Das Schiff ist ein Nachbau einer traditionellen Barke, deren Modell im Musée des Traditions et des Barques du Léman im Walliser Dorf St-Gingolph ausgestellt ist. Auf Reymonds Initiative wurde die «Demoiselle» in fünfzehnjähriger Arbeit ab 1997 erst als Arbeitslosenprojekt und dann in Freiwilligenarbeit gebaut. Das Schiff ist Reymonds Geschenk an die Jugend und seine ehemaligen Schüler. Es ist ein schwimmendes Ferienlagerhaus sowie das erste Segelschulboot der Schweiz. Es hat eine voll ausgerüstete Küche, Betten für 24 Personen und eine behindertengerechte Toilette. Pfadigruppen und Schulklassen können so zu Selbstkosten den See und seine nautische Kultur kennenlernen, querfinanziert durch kommerzielle Fahrten mit Einzeltickets, Charterfahrten und einem Förderverein.

  • IST DIESER ARTIKEL LESENSWERT?
  • Ja   Nein
Processing...
Thank you! Your subscription has been confirmed. You'll hear from us soon.
ErrorHere