Architektur

22.11.2021

Weiterverwenden ist das neue Neu

Bei allen Gütern, aber vor allem auf dem Bau, müssen wir viel mehr weiterverwenden und viel weniger wegwerfen.

Christian Aeberhard  / zVg FREITAG, Joël Tettamanti / zVg baubüro in situ ag, Martin Zeller
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Lavabos haben kein Verfalldatum. In der Bauteilbörse gibt’s eine grosse Auswahl.

Fast wie im Baumarkt sieht es in der Bauteilbörse Basel aus: Türen, Fenster, Wasch­maschinen, Parkett, Hausgeräte, Waschbecken, Badarmaturen. Seit 25 Jah­ren baut die Bauteil­börse Brauchbares aus Abbruch­liegen­schaften aus. Denn in der Schweiz wird nicht nur gebaut wie wild, sondern auch abgerissen wie wild. Neues Bauland wird kaum mehr eingezont. Deshalb müssen Bauherren Bauland bei bestehenden Liegen­schaften optimieren – mit gigantischen ökologischen Konsequenzen. 60 Prozent des Abfalls in der Schweiz sind Bauschutt. Weltweit betragen die Emissionen der Zement­­industrie zwischen 7 und 10 Prozent der CO2-Emissionen, doppelt so viel wie jene der Luftfahrt. Dazu kommt die Stahlindustrie, deren Produkte zur Hälfte in den Bausektor gehen – zusammen verursachen Stahl und Zement laut der Wirtschafts­zeitschrift «The Economist» etwa 14 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Und dann gibt’s beim Bau noch die Emissionen anderer energie­intensiver Materialien wie Ziegel­steine oder Steinwolle sowie unzählige Last­wagenfahrten.

Start mit Freitag-Taschen

Die gigantischen Abfall­mengen aus der Baubranche fliegen noch immer weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit. Doch auf anderen Gebieten dreht der Wind. Eine umwelt- und klima­bewusstere Jugend fördert den Vintage-Boom und gründet Repair-Shops – sie trägt den Dingen Sorge, statt sie wegzuwerfen. Das hat schon 1993 mit den Taschen der Davoser Brüder Markus und Daniel Freitag angefangen. Sie haben ausrangierte Lkw-Planen, Sicherheits­gurte und Veloschläuche zu angesagten Accessoires gemacht. Ob Paletten zu Möbeln werden, zersägte alte Badewannen zu Sofas oder alte Kleider zu coolen Handtaschen: «Upcycling» ist hip, und kreatives Weiterverwenden ist das neue Neu.

Während die Menge des Haushaltabfalls dank umweltbewussterer Bürger und besserer Recycling­systeme seit Jahren zurückgeht, steigt die Menge des Bauabfalls immer schneller. Vor allem Gewerbe­liegen­schaften droht oft schon nach 30 Jahren der Abriss. So wird etwa die Deponie Höli im Kanton Baselland bei Liestal zehn Jahre früher voll als ursprünglich geplant. Als Gegenmassnahme stieg der Deponiepreis pro Tonne von 40 auf 45 Franken. Doch ein Multi-Millionen-Projekt mit 1000 Tonnen Schutt wird so lediglich 5000 Franken teurer.

Die Wegwerfphase im Bau ist ohnehin ein Phänomen der Überfluss­gesellschaft der letzten 60 Jahre. Vorher wurden Bauteile selbst­verständlich weiter­verwendet. Ringmauern und römische Theater wurden als Steinbrüche verkauft, nach dem Zweiten Weltkrieg klopften in Deutschland die Trümmerfrauen den Mörtel von den Ziegeln zerstörter Häuser und begannen, damit neue Häuser zu bauen. Und auch von Schiffen wurden ganze Einrichtungs­komponenten weiterverwendet. Grosse Teile der Erstklass­­salons des Titanic-Schwester­schiffs Olympic sind noch heute erhalten: im Hotel White Swan in Northumberland. Denn vor dem Zweiten Weltkrieg war es üblich, Innen­ausstattungen von Schiffen vor der Verschrottung, aber auch von Häusern und Hotels vor dem Abbruch komplett auszubauen, zu versteigern und andernorts wieder einzubauen.

Neue Backöfen im Müll

Manuel Herzog, Leiter der Bauteilbörse Basel, schüttelt immer wieder den Kopf darüber, wie gedankenlos sich die reiche Schweiz gigantische Abfallberge leistet: «Da werden Hunderte Fenster in die Deponie gekarrt, fünf Jahre alt, beste Dämmwerte. Manchmal retten wir Backöfen, die noch nie gebraucht wurden.» Die Bauteilbörse prüft alle Geräte, repariert sie nötigen­falls und entsorgt, was nicht mehr zu gebrauchen ist. Sie demontiert aber auch intakte Komponenten und betreibt damit ein Ersatz­teillager. Abwarte von Wohn­siedlungen finden hier oft Ersatz für beschädigte Teile von nicht mehr produzierten Kühlschränken und Geschirrspülern.

Gebrauchte Fenster sind recht beliebt. Doch nach Aussage von Manuel Herzog, Leiter der Bauteilbörse Basel, könnte man noch viel mehr wiederverwenden.
Die Bauteilbörse prüft und revidiert Hausgeräte, bevor sie weiterverkauft werden.

Die Bauteilbörse ist eine gemeinnützige Organisation. Sie betreibt Arbeits­inte­gration, beschäftigt aber auch Zivildienstleistende. Kommerziell lässt sich so etwas – trotz laufender Neuorganisation – kaum betreiben. Es braucht eine professionelle Basis, um den ökologischen Fussabdruck der Baubranche zu verkleinern.

Wie das gehen soll, zeigt das Baubüro in situ in Basel. Dessen Leiterin Barbara Buser hat vor 25 Jahren die Bauteilbörse gegründet. in situ ist ein Pionier der Kreislauf­wirtschaft und im Bauen mit gebrauchten Bauteilen. Am gefragtesten zur Wieder­verwendung im Bau sind heute Parkett und Fenster. Doch laut der Architektin Kerstin Müller von in situ ist es vor allem effizient, wenn tragende Bauteile wieder­verwendet werden: Stahl und Holz und auch Beton. Das hat in situ bei der Aufstockung der ehemaligen Werkshalle 118 von Sulzer in Winterthur gezeigt, bei der vorwiegend wieder­verwendete Bauteile zum Einsatz kamen: von der tragenden Konstruktion über Böden, Plättli und Armaturen bis hin zur Fassade, die nicht einmal neu gestrichen wurde. Und das Ganze sieht überhaupt nicht nach Abbruch und Villa Kunterbunt aus, sondern ausgesprochen edel.

Fenster werden mittlerweile oft wiederverwendet. Das bedeutet aber eine lange Vorlaufzeit für die Planung.
Bei der Aufstockung der ehemaligen Sulzer-Halle 118 kamen weitgehend gebrauchte Materialien zum Einsatz – auch die rote Blechfassade.
Teure alte Betonsteine

Während die Aufstockung der Halle 118 in Winterthur ein Pilotprojekt war, wird bei der Wohn­überbauung «Hobelwerk» der Genossenschaft «Mehr als Wohnen» in Winterthur mit engem Budget gearbeitet. Hier können laut Kerstin Müller zwar nicht überall gebrauchte Teile verwendet werden. Aber die Menge der Teile ist für Mehrfamilienhäuser bereits substanziell, etwa die Fenster, die aus den Häusern einer anderen Wohnbau­genossenschaft in Basel stammen, oder Material für die Umgebungs­arbeiten. Die billigste Lösung dafür sind Fertig­betonsteine. Gerade hier liessen sich besonders viele Emissionen sparen, beispielsweise mit edlem Material wie Maggia-Granit-Platten aus den gegenwärtig oft abgerissenen 1950er-Siedlungen. Für das «Hobelwerk» möchte in situ Beton­verbundsteine wiederverwenden. Doch Steine, die auf der einen Seite des Bahnhofs auf Paletten geschichtet und auf der anderen Seite des Bahnhofs neu verlegt werden, sind teurer, als wenn man die Steine mit einem Bagger in eine Mulde kippt, auf eine weit entfernte Deponie karrt und stattdessen identische neue Steine von weit her kauft. Abhilfe schaffen könnten nur massiv höhere Abfall- und CO2-Gebühren. Bauen mit bestehenden Teilen bedeutet aber auch, sich schon lange vor Projektbeginn Gedanken zu machen. So muss sich die Planung eines Neubaus nach den verfügbaren Fenstern richten.

Arbeit ist teuer

Das ist nicht ganz einfach in einer Welt, in der Arbeit viel teurer ist als Waren und nagelneue Qualitätsgüter sofort wertlos werden, sobald sie eingebaut sind. Manuel Herzog von der Bauteilbörse Basel muss denn auch bei gewissen Angeboten immer wieder passen, auch wenn er alles gratis bekommt: «Manchmal bekomme ich Anrufe, man hätte da 100 Fenster und 20 Küchen, in einem Monat beginne der Abriss.» So schnell lässt sich weder genug Personal aufbieten noch genügend Lagerraum organisieren und erst recht nicht ein Projekt finden, in das die Fenster reinpassen. Und so gehen Millionenwerte auf die Deponie, zu 45 Franken pro Tonne.

Urban Mining holt aus den Städten sehr viele wiederverwendbare ­Güter statt nur Abfall.

Neben der Vorlaufzeit wäre auch ein kontinuierlicher Strom von ähnlichen Bauteilen hilfreich. Fenster, Türen, Küchen, Heizkörper, Badarmaturen, Toilettenschüsseln und vieles mehr sind weitgehend normiert. Aber Bauherrinnen und Architekten müssten wissen, was wann und in welchen Mengen verfügbar ist. Das bedingt lange Vorausplanung, sowohl bei den Abreissenden als auch bei den Bauenden. Bisher klappt das nur in Ausnahmefällen. Nötig wäre ein Bau­materialien­kataster, bei dem man genau weiss, welche Dinge wo verbaut sind. Das ist eine der wichtigsten Voraus­setzungen für das sogenannte «Urban Mining», den urbanen Bergbau, der aus den Städten statt nur Abfall komplett wieder­verwendbare Güter in grossen Mengen herausholt. So abwegig ist das gar nicht. Bei Schad­stoffen gibt es solche Verzeichnisse schon, etwa beim Asbest. Im Idealfall geht das so weit, dass jedes Gebäude einen «digitalen Zwilling» erhält, in dem alle Komponenten aufgeführt und alle Änderungen dokumentiert sind.

Vorlaufzeiten nutzen

Gewisse Ansätze gibt es schon. So hat ein Basler Pharma­unternehmen der Bauteilbörse bereits mitgeteilt, welche Gebäude in etwa anderthalb Jahren abgerissen werden. So können nun genaue Listen erstellt werden, an denen sich die Architekten neuer Projekte orientieren. Bei der Planung von Neubauten dauert es bis zum Abriss des alten Gebäudes ohnehin drei bis vier Jahre. Wenn der erste Schritt der Planung eine Auflistung aller künftig verfügbaren Bauteile ist, kann viel mehr Material gerettet werden als mit einem panischen Anruf einen Monat vor dem Abriss. Die seit dem Zweiten Weltkrieg systematisch voran­getriebene Normierung am Bau würde es laut Kerstin Müller auch erlauben, normierte Betonteile und schwere, tragende Elemente wieder­zuverwenden statt lediglich den zerbröselten Beton als Kiesersatz in Recyclingbeton einzusetzen. Da ist man etwa in den Niederlanden schon sehr viel weiter. Dort existieren solche Kataster; es gibt immer wieder atemberaubend elegante Neubauten, komplett errichtet aus gebrauchten Ziegelsteinen und anderen gebrauchten Bauteilen.

Wiederverwenden heisst, völlig neue Lösungen zu finden. So wollte etwa der Energie­versorger Primeo (vormals EBM) zusammen mit in situ ein Museum aus Stahlträgern von rückgebauten Strommasten bauen. Dafür hat die EPFL in Lausanne laut Kerstin Müller ein Programm entwickelt, das aus den verfügbaren Trägern eine möglichst steife Konstruktion erstellt. Die sieht dann aus wie die gewachsene Struktur eines Baums und nicht mehr wie ein konventionelles Gitterfachwerk. Wiederverwenden statt wegwerfen führt so zu völlig neuen kreativen Gebäuden – vorausgesetzt allerdings, das Wegwerfen wird massiv teurer als 45 Franken pro Tonne.

Das «Recht auf Reparatur»

In den USA gibt es sie überall, die Autofriedhöfe, wo man sich als «Auto Part Picker» die Ersatzteile für sein Auto selbst aus einem Autowrack ausbauen kann. Künftig soll das noch viel weiter gehen. Ohne grosses Tamtam hat US-Präsident Joe Biden im Juli 2021 eine neue Weisung zur Reparier­barkeit von Konsumgütern in Kraft gesetzt. Demnach gibt es bei gekauften Gegenständen für die Konsumenten ein «Recht auf Reparatur». Ähnliche gesetzliche Richtlinien sind auch in der EU in Erarbeitung. Es würde Hersteller zwingen, Reparatur-, Montage- und Demontage­anleitungen zu publizieren. Sogenannte «Design to fail»-Komponenten, die nach einer bestimmten Zeit versagen, wären verboten. Es würde auch die Vorhaltung von Ersatzteilen vorschreiben, ebenso die öffentliche Verfügbarkeit elektronischer Diagnose-Tools, etwa für Autos. Solche Gesetze können den Anfang von völlig neuen Branchen und Wieder­aufarbeitungs­betrieben werden. Das Recht auf Reparatur wäre auch das Ende des typischen Kunden­dienstsatzes: «Das Ersatzteil gibt’s nicht mehr, aber wir geben Ihnen auf ein neues Gerät 10 Prozent Rabatt.»

Ein Kompendium zum zirkulären Bauen

Das Baubüro in situ AG und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Architektur, haben unter dem Titel «Bauteile wiederverwenden – ein Kompendium zum zirkulären Bauen» ein Buch herausgegeben, das Planern wie Bauherren zeigt, wie das sog. zirkuläre Bauen in der heutigen Welt funktioniert.

Wie wichtig zirkuläres Bauen ist, zeigt auch die Verleihung des Pritzker-Preises, des «Nobelpreises für Architektur» an Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Die beiden französischen Architekten weigern sich, Gebäude abzubrechen oder brauchbare Dinge wegzuwerfen. So haben sie selbst die berüchtigten Banlieue-Wohnsilos zu begehrtem Wohnraum gemacht – ohne dass die Mieten ge stiegen wären oder die bisherigen Mieter ihre Wohnungen hätten verlassen müssen.

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