Nachhaltigkeit

09.09.2020

Toni «El Suizo», der Brücken­bauer

Beat Anton Rüttimann baut Brücken aus alten Draht­seilen von Luft­seil­bahnen.

zVg Toni Rüttimann, Daniela Hess, Bewohner von Po U
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Die Fuss­gänger­brücken von Toni Rüttimann sind ent­schei­dend für die öko­no­mische Ent­wick­lung. In vielen Regionen sind mehr als die Hälfte der täg­lich­en Nutzer der Brücken Kinder und Ju­gend­liche auf dem Weg zur Schule. Die Brücken leisten damit einen ent­schei­den­den Bei­trag für eine bessere Bildung.

Der Thrill über dem Ab­grund gehört zu den Luft­seil­bahnen. Dass es aber trotz Nerven­kitzel nie zur Ka­ta­strophe kommt, ver­danken die Schweizer Luft­seil­bahnen strikten Si­cher­heits­vor­schriften. Auf­grund dieser Vor­schriften müssen Schweizer Seil­bahnen regel­mässig ihre Seile aus­tauschen. Seit knapp 20 Jah­ren werden diese Draht­seile, die sich fast immer noch in sehr gutem Zu­stand be­finden, nicht mehr ein­ge­schmolzen. Die Schweizer Seil­bahnen schenken sie dem Brücken­bau­pionier Toni Rüttimann aus Pontresina. Toni «El Suizo», Jahr­gang 1967, wollte ur­sprüng­lich Bau­ingenieur werden, brach das Studium an der ETH 1987 aber nach wenigen Monaten ab, um in einem Erd­beben­gebiet in Ecuador zu helfen – und sah da, dass es in vielen Regionen kaum etwas Wichtigeres gibt als Brücken. Ohne Brücken gibt es keine Nahrungs­mittel, keine Treib­stoffe, keinen ge­sicherten Schul­weg, keine Medizin.

Die Schweizer Seil­bahnen liefern ihm die nach einer Revision nicht mehr ge­braucht­en Drahtseile.
Lieber sechs Fuss­gänger­brücken statt einer Strassenbrücke

Brücken bauen konnte er in Latein­amerika auch ohne Studium. An­fangs bettelte er in der Öl­in­dustrie um Bohr­turm­seile und Pipeline­röhren. Dadurch entstanden Fuss­gänger­brücken mit bis zu 264 Me­tern Spann­weite, deren Kon­struk­tion er laufend ver­besserte. Mitt­ler­weile hat er ein hoch­stan­dar­di­siertes System ent­wickelt, das mit zwei un­ter­schied­lichen Seil­massen für die Trag- und Hänge­seile aus­kommt sowie zwei un­ter­schied­lichen Röhren­durch­messern für die Ufer­türme und die Unter­kon­struk­tion der Fahr­bahn – dazu die Riffel­bleche der Fahr­bahn, fertig. Gebaut wird immer in enger Zu­sam­men­ar­beit mit der lokalen Be­völ­ke­rung. Sie hilft beim Trans­port, bei den Bau­ar­beiten vor Ort und steuert in der Regel auch Steine und Zement für die Ver­an­ke­rungen und Auf­fahrts­rampen bei. Damit stellt Toni Rüttimann sicher, dass die Leute die Brücke auch wirk­lich wollen und brauchen. Seine Pro­jekte in Latein­amerika waren so er­fol­greich, dass er dort als Toni «El Suizo» bekannt ist. Und er baut aus Prinzip keine Strassen­brücken, sondern nur Fuss­gänger­brücken, obwohl einige auch Autos tragen könn­ten. Die Be­grün­dung ist, er wolle armen Menschen in un­mittel­barer Nach­bar­schaft helfen und nicht die Rolle des Staates über­nehmen. Des­halb baue er lieber sechs Fuss­gänger­brücken statt einer Strassenbrücke.

Beim Bau einer Brücke hilft je­weils die ganze Dorf­ge­mein­schaft mit. Sie müssen auch den Trans­port or­ga­ni­sie­ren und Fun­da­mente bauen. Damit ist sicher­ge­stellt, dass nur Brücken ge­baut werden, die auch wirk­lich nötig sind.
Der Zement­mischer ge­hört auch dazu – für die Fun­da­mente der Ufertürme.
40 bis 50 Brücken pro Jahr

Als ihn auf einer Ver­an­stal­tung in der Schweiz ein kam­bod­scha­nischer Flüch­tling ansprach und sagte, in seiner Heimat fehle es eben­falls an Brücken, begann Rüttimann, auch in Süd­ost­asien Brücken zu bauen – bis zu jenem Moment, als ihn nach einem Jahr in Kam­bod­scha das Guillain-Barré-Syndrom praktisch kom­plett lähmte. Mehrere Monate war er im Spital und musste sich zwei Jahre lang müh­sam zurück ins Leben kämpfen. Selbst stehen und gehen ist für ihn heute keine Selbst­ver­ständ­lich­keit – und das für jemanden, der am liebsten auf Bau­stellen am Seil hängt, noch bevor unter den Seilen der Fuss­gänger­steg in­stal­liert ist. Aller­dings, sagt Toni Rüttimann, hatte die Krank­heit auch etwas Gutes. In der Zeit seiner Rekon­va­les­zenz hat er ein Pro­gramm für stan­dar­di­sierte Hänge­brücken ent­wickelt, mit dem er die to­po­grafischen Mass­angaben seiner Brücken­bauer­kollegen in Latein­amerika und Süd­ost­asien zu de­tail­lierten Bau­plänen für Brücken aus­bauen kann. Das erlaubt ihm inzwischen, 40 bis 50 Brücken pro Jahr zu bauen.

Die Brücken sind nur für Fuss­gän­ger, kleine Karren und Zwei­räder ge­dacht und von mi­ni­ma­lis­tischer Eleganz.

Toni «El Suizo» ist die viel­leicht mini­ma­lis­tischste humanitäre Or­ga­ni­sation der Welt. Toni Rüttimann hat keinen festen Woh­nsitz, nicht einmal eine Web­site, le­di­glich eine Mailing­liste, wie in den frühen 1990er-Jah­ren. Alles, was er braucht, hat in zwei Taschen Platz – eine für seine Klei­der, die andere für seinen Lap­top. Und mitt­ler­weile muss er auch nicht mehr um Material betteln. Die für die Ufer­türme und die Unter­kon­struk­tion der Hänge­brücken nötigen Stahl­röhren bekommt er seit 2005 vom welt­grössten Rohr­pro­du­zenten Tenaris geschenkt, die Riffel­bleche vom ar­gen­tinischen Stahl­konzern Ternium. Der Seil­bahn­verband gibt ihm ein General­abon­nement, wenn er in der Schweiz un­ter­wegs ist. Seine Spender­liste für Seile liest sich wie das Who’s who der Schweizer Bahnen und Bahn­branche. Toni Rüttimanns Mass­ein­heit bei den Spenden ist nicht der Franken, sondern Meter und Tonnen. Bis­her hat er von 70 Unter­nehmen mehr als 1100 Ton­nen Draht­seile er­hal­ten. Es gibt kaum eine Schweizer Bahn, von der er noch kein Seil weiter­ver­wendet hat, und auch der Schweizer Draht­seil­her­steller Fatzer gehört zu seinen Gönnern.

Kleine Brücken­bauer­familie

Mitt­ler­weile, Stand 1. Juli 2020, sind 841 Brücken fertig­ge­stellt. 16 sind im Bau und 78 in der Planungs­phase. Die Brücken er­leich­tern das Leben von 2,2 Mil­li­onen Menschen. In Süd­ost­asien sind oft die Häl­fte der Nut­zer einer Brücke Kinder und Jugend­liche auf dem Weg zur Schule. Wie lange er das noch machen will und kann, weiss er nicht. Vor zwei Jah­ren hat er bei der Ein­wei­hung seiner 777. Brücke in Myanmar seine Part­nerin, die Leh­re­rin Palin, ge­hei­ratet, und mitt­ler­weile haben die beiden eine kleine Tochter, Athina. Künftig will Toni Rüttimann ver­mehrt in Europa Brücken bauen – aller­dings nicht physisch, sondern Brücken zwischen Men­schen, mit Vor­trägen, bei denen er für sein Anliegen wirbt.

Trotz­dem gibt es in der Schweiz eine von ihm in­spi­rierte Brücke. Die spek­ta­kuläre Passerelle de Corbassière auf dem Ge­biet der Walliser Gemeinde Bagnes ist auf 2365 Me­tern über Meer die höchst­ge­legene Fuss­gänger­brücke Europas. Sie ist 210 Meter lang und über­quert in 70 Metern Höhe den Corbassière-Gletscher. Die Brücke wurde nicht von ihm geplant und gebaut. Aber Toni Rüttimann ist ihr sym­bo­lischer Pate, weil der lokale Berg­bahn­be­treiber Téléverbier das erste Berg­bahn­un­ter­nehmen war, das ihm 2004 die nicht mehr be­nö­tig­ten Seile schenkte. Auf der Passerelle de Corbassière lässt sich er­leben, wie die Brücken von Toni Rüttimann funk­ti­o­nie­ren und welche Er­leich­te­rung sie dar­stellen, wenn Kinder sie auf dem Schul­weg zwei­mal täglich über­queren. Und wenn immer in der Schweiz bei einer Seil­bahn eine grosse Revision fällig ist, dann ent­steht aus den alten Seilen irgendwo in der Welt eine neue Brücke – dank Toni «El Suizo» Rüttimann.

Kontakt zu Toni «El Suizo» Rüttimann über den Ver­band Seil­bahnen Schweiz:
seilbahnen.org/Seilbruecken

Inoffizielle Web­site über Toni Rüttimann:
wardein.com/toni

Foto­album von einem Brücken­bau in Latein­amerika:
danvanderzwalm.com/album/el-suizo-toni-ruttimann-the-bridge-builder

Mailing­liste von Toni Rüttimann:
mailman2.ti-edu.ch/mailman/listinfo/bridgebuilderstories

Video von der Fertig­stellung der Brücke Nr. 777 – und Toni Rüttimanns Hochzeit:
vimeo.com/270987089/767fd0c442

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