Nachhaltigkeit

13.06.2021

«Plastic is fantastic!»

Kunst­stoffe sind unver­zichtbar. Sie machen Lebens­mittel haltbar, Flug­zeuge leichter und unsere Kleider warm und wider­stands­fähig. Und ohne Kunst­stoffe ist die Energie­wende unmöglich. Was muss sich ändern, damit Plastik ökologischer wird?

plainpicture / iStock
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Wir verbrauchen zu viel Kunst­stoff – aber Kunst­stoffe können auch helfen, die Welt nach­haltiger zu machen.

«Wood is good, but Plastic is fantastic» ist ein geflügeltes Wort in der Kunst­stoff­industrie. Tatsächlich haben Kunst­stoffe im Lauf der letzten hundert Jahre natürliche Pro­dukte weit­gehend substituiert, seien es Holz­produkte, Baum­wolle oder Wolle, in vielen Bereichen aber auch Metalle. In der Textil­industrie liessen sich die heutigen Mengen ohne Kunst­fasern schon lange nicht mehr her­stellen – oder nur noch mit noch grösseren Umweltschäden.

Von der Kohle zum Öl

Kunststoffe hingen immer eng mit den jeweils führenden Energie­trägern zusammen. So wurde der welt­weit erste Kunst­stoff – Bakelit –, der bis vor etwa vierzig Jahren noch all­gegen­wärtig war, aus Braun­kohle- und Holz­kohle­teer erzeugt. Die heutigen Kunst­stoffe sind dagegen praktisch aus­schliess­lich Produkte der Petrochemie. Lange galten Kunst­stoffe als uninteressantes Anhängsel, und Öl­konzerne wie Texaco stiessen ihre petrochemischen Divisionen ab. Doch nun versuchen die Öl­konzerne, das wegbrechende Energie­geschäft mit der Petrochemie zu kompensieren. ExxonMobil, der konservativste unter den grossen Öl-Multis, der noch am längsten an der fossilen Energie fest­halten will, hat massiv in die Petro­chemie investiert. Deren Anteil am Gewinn beträgt mittler­weile je nach Ölpreis zwischen 15 und 25 Pro­zent, mehr als doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren.

In Verpackungen wird oft über­durch­schnittlich viel Plastik verbraucht.

Als Rettungs­boot für die Öl­industrie taugt Plastik aller­dings nur, wenn es öko­logischer wird. Die Verpackungs­­industrie setzt welt­weit mit Plastik­verpackungen pro Jahr rund 375 Milli­arden Dollar um. Allein der Wert des Abfalls wird auf jährlich 80 bis 120 Milli­arden Dollar geschätzt. Der grösste Teil davon landet noch immer in Deponien. In der Schweiz liefern Kunst­stoffe wenigstens in den Kehricht­verwertungs­anlagen will­kommenen Brenn­stoff, zumal der Kehricht aufgrund der immer weiter­gehenden Müll­trennung immer schlechter brennt. Vor allem bei den PET-Flaschen ist die Recycling­quote sehr gut. Sie beträgt gegen 90 Pro­zent. PET ist die Erfolgs­geschichte eines Kunst­stoffs, der gezielt für rezyklierbare Lebensmittel­verpackungen entwickelt wurde.

Bei Verpackungen liegt der Teufel im Detail

Im Detail­handel sind Plastik­verpackungen allgegenwärtig. Allerdings entfallen bei Fleisch oder Käse nur etwa fünf Prozent der CO2-Emissionen auf die Verpackung. Den Rest verursacht das Produkt selbst. Zudem betont die Kunststoff­industrie, dass diese Verpackungen die Menge an Food-Waste massiv reduzieren. Ein kompletter Verzicht auf Kunststoffverpackungen würde deshalb die Emissionen in der Lebensmittelbranche erhöhen, weil der CO2-Fuss­abdruck der verdorbenen Lebens­mittel viel höher wäre als jener der Plastik­verpackungen.Doch Kunst­stoffe schützen nicht nur die Lebens­mittel im Laden. Auch bei Lagerung, Transport und Produktion spielen sie eine entscheidende Rolle, selbst wenn die Produkte am Schluss unverpackt verkauft werden. Das spricht allerdings nicht gegen Offen­verkauf und Unverpackt-Läden. Wer bewusst Lebens­mittel unverpackt einkauft, wird auch besser drauf achten, dass sie nicht verderben. Doch bei jenen Menschen, deren Kühlschrank einem experimentellen Bioreaktor ähnelt, verhindern Kunst­stoffe eine noch grössere Verschwendung.

Einweg­ver­packungen dürften zunehmend verschwinden.
Künftiges Ziel sind wieder Mehr­weg­ver­packungen – oder gar «Upcycling», bei dem aus altem Kunst­stoff wertvollere Anwen­dungen werden.
Ein ökologisches und ein finanzielles Problem

Kunststoffe werden dann zum massiven ökologischen Pro­blem, wenn sie den geordneten Kreis­lauf von Produktion und Recycling verlassen oder wenn gar kein solcher existiert. Die spanische Provinz Almeria gilt als der Gemüse­garten Europas. Hier wachsen ganzjährig Hundert­tausende Tonnen Gemüse in sogenannten Folien­tunnels, langen Treib­häusern aus Plastik­folien. Diese Folien verspröden mit der Zeit und landen oft in wilden Deponien unter freiem Himmel, wo sie langsam zerbröseln und als Mikro­plastik ins Meer gespült werden – zusammen mit allem anderen Plastik­müll sind es 8 Milli­onen Tonnen jährlich. Mit verletzten Tieren und verschmutzten Stränden erscheint die Situation im Mittel­meer und an den Atlantik­küsten schon schlimm, doch in anderen Welt­gegenden ist sie noch viel schlechter. 90 Pro­zent des Plastik­mülls in den Meeren stammt aus zehn grossen Strömen in Südost­asien, zumal die Hälfte der Welt­bevölkerung in Indien, China und den Ländern Südost­asiens lebt.

In der Kunst­stoff­industrie ist man sich bewusst, dass es Unsinn ist, jährlich Roh­stoffe mit Milliarden­wert wegzuwerfen. Ziel ist es deshalb, bei den Einweg­produkten effizientere Recycling­methoden zu entwickeln. So hat der Branchenriese BASF ein Projekt namens ChemCycling lanciert, bei dem die langen Molekül­ketten von Kunst­stoffen mithilfe der Pyrolyse aufgebrochen werden. So entstehen daraus wieder die ursprünglichen flüssigen Roh­materialien, welche die Kunst­stoff­hersteller bei BASF für ihre Produktion einkaufen. Chemisches Recycling eignet sich vor allem für stark gemischte und verschmutzte Kunst­stoff­abfälle, die bisher in Deponien und Verbrennungs­anlagen landeten.

«Mehr Recycling würde Kunst­stoffe öko­logischer machen.»

Die lange Lebens­dauer besser nutzen

Selbst nach zwanzig Jahren sind viele Kunst­stoffe noch wie neu. 2020 haben Bilder die Runde gemacht, wie ausgediente Wind­turbinen­blätter zersägt und auf Deponien vergraben wurden. Das dürfte nicht passieren, denn solche Turbinen altern kaum und werden oft nur demontiert, weil nach zwanzig Jahren die Subventionen ausgelaufen sind. Bei den Turbinen­blättern handelt es sich um sogenannte faser­verstärkte Kunst­stoffe, die neben dem Kunst­stoff­harz noch eine Armierung aus Glas- oder Kohle­fasern enthalten. «Karbon» ist deshalb immer auch Kunst­stoff, denn Karbon­fasern allein sind nur ein schwarzes Gewebe. Weit häufiger als Kohle­fasern – und auch viel billiger und weniger energie­intensiv – sind Glas­fasern, aber auch Basalt- und in jüngerer Zeit natürliche Stoffe wie Sisal- oder Hanf­fasern. Viele Natur­fasern erreichen etwa die gleiche Festig­keit wie Glas­fasern, sind aber viel leichter zu entsorgen, vor allem wenn das Harz ein moderner, ungiftiger Kunststoff ist.

In einer ­Verbund­werk­stoff­konstruktion machen die Fasern etwa zwei Drittel und das Harz, das später zum Kunst­stoff aushärtet, etwa ein Drittel des Gewichts aus. An einer Boeing 787 oder einem Airbus A350 mit sehr vielen solchen Composite-Teilen befinden sich etwa zwanzig Tonnen Kunst­harz. Autos werden dank Kunst­stoff­teilen leichter. Zudem verhindern sie als weiche, verform­bare Teile bei Unfällen Verletzungen von Fussgängern und Radfahrern.

Auch die Erzeugung erneuerbarer Energie funktioniert nicht ohne Kunst­stoffe. In Blatt einer Wind­turbine beispiels­weise werden zwei bis drei Tonnen Kunst­harz vergossen. Solar­panels bestehen bis auf die hauchdünnen Silizium­scheiben zum grössten Teil aus Kunst­stoff. Und wer Elektri­fizierung sagt, meint immer auch Isolation, denn Strom ist ohne Isolations­materialien undenkbar. Die dezentralisierte Strom­er­zeugung wird den Bedarf an Kabeln und damit an Isola­tions­material massiv vergrössern. Zudem sind fehler­hafte Elektro­installa­tionen und Isolations­defekte welt­weit die häufigste Brand­ursache. Gute Isolations­­materialien sind das einzige Gegenmittel.

Brauchen wir wirklich so viel Material?
Der Kleider­schrank als Ökomonster

Auch die Textil­industrie braucht gigantische Mengen Kunst­fasern. Während der Verbrauch an Baum­wolle stagniert, hat sich jener von Kunst­fasern in den letzten zwanzig Jahren vervier­facht. Fleece­jacken und kuschelige Decken bestehen oft zu 100 Pro­zent aus Polyester. Für die Her­stellung eines Kilo­gramms Baum­wolle werden etwa zehn Tonnen Wasser benötigt – jeder Kleider­schrank enthält also mehrere Schwimm­bäder «Geisterwasser». Dagegen ist der Wasser­ver­brauch bei Kunst­stoffen minimal. Aller­dings hat die Erfindung der «Fast Fashion» in der Textil­industrie dazu geführt, dass alle öko­logischen Gewinne durch bessere Kunst­stoff­technologien von der schieren Masse auf­ge­fressen wurden. Die Abfall­berge wachsen in den Himmel. Alt­kleider werden oft gar nicht mehr gesammelt, weil die Qualität so schlecht geworden ist.

Dabei hätte moderne Kunst­stoff­technologie gerade bei Kleidern viel zu bieten. So wird der grösste Teil der Stoffe aus Kunst­fasern und Misch­gewebe noch immer gefärbt wie natürliche Fasern seit Jahr­hunderten: in einem Farb­bad, das Millionen Liter verschmutztes Wasser zur Folge hat. Weil diese Art des Färbens relativ ungenau ist, landet aufgrund von Fehl­färbungen rund ein Fünftel aller produzierten Textilien ungetragen im Müll. Doch die chemische Industrie hat auf Anregung der Automobil­industrie schon vor Jahren eine Technologie namens SpinDye entwickelt, mit der Kunst­stoff­fasern gleich während des Spinn­prozesses eingefärbt werden. Damit sehen Stoff­sitze im Auto farblich auch nach jahre­langem Gebrauch noch aus wie neu. Das System benötigt kein Wasser und führt zu perfekter Färbung.

Doch SpinDye findet nur sehr langsam den Weg vom Auto in die Mode. Die Kleider­ketten müssen dafür die Farben für die Kleider bestimmen, noch bevor das Garn für die Gewebe her­ge­stellt wird, was vielen zu mühsam und zu wenig flexibel ist. Doch es gibt einige löbliche Ausnahmen. Fjällräven und Decathlon setzen das System für ihre gesamte Produktion ein. Der französische Sport­discounter Decathlon beweist damit, dass Ökologie nicht zwingend höhere Preise verlangt, sondern nur eine bessere Planung. Aber auch H&M hat eine Kollek­tion lanciert, bei der das Ausgangs­material aus rezyklierten Alt­kleidern besteht und das Garn noch vor dem Weben des Stoffs mit der SpinDye-Techno­logie gefärbt wird.

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Intelligente Kunst­stoffe gegen Malaria

Moderne Kunst­stoff­technologien ermöglichen ungeahnte Anwendungs­gebiete. So werden seit Jahren Moskito­netze her­ge­stellt, deren Kunst­stoff statt Farbe winzige Mengen Insektizid enthält – viel weniger, als wenn die Netze nach­träglich damit imprägniert würden. Das Gift bleibt im Material gebunden und hält Malaria­mücken trotzdem in Schach. So sind dank moderner Kunst­stoffe smarte Textilien möglich, welche Medikamente über lange Zeit in sehr kleinen Dosen gezielt an die Haut abgeben. Und es ist noch viel mehr möglich mit Kunst­stoffen, wenn wir nicht wie bisher so vieles damit falsch machen.

Die grosse Karriere einer untauglichen Zahnfüllung

Araldit – das sind jene zwei Tuben, die alle Spiel­zeuge wieder heil machen. Doch es isoliert auch, macht Strom, fährt in jedem Auto mit – und war ursprüng­lich als Zahn­füllung gedacht. Der Chemiker Pierre Castan hatte in den 1930er-Jahren im zahn­technischen Labor De Trey in Zürich ein Material entwickelt, das als Zahn­füllung dienen sollte. Doch für Plomben taugte es nicht. Beim Aus­härten wurde die Masse heiss – schmerz­haft in einem frisch auf­gebohrten Zahn. 1946 entdeckte man die her­vor­ragenden Klebe­eigen­schaften des Epoxidharz genannten neuen Materials, vor allem bei Aluminium.

Noch im gleichen Jahr brachte es die Firma Ciba deshalb unter dem Namen Araldit auf den Markt. Neben dem Kleben aller möglichen Materialien war eine der aller­ersten industriellen Anwen­dungen die Pro­duktion neuartiger Ski. Doch auch die Elektro­technik schien nur auf den gut isolierenden Kunst­stoff gewartet zu haben. Endlich gab es eine Alternative zum zerbrechlichen Porzellan. Ganze Trans­for­matoren werden heute voll­ständig in Araldit einge­gossen, um sie vor Witterung und Kriechströmen zu schützen, ebenso wie die Magnet­spulen der Trassen der Magnet­schwebe­bahnen in China. Laufend tauchen neue Anwen­dungen für Araldit auf, sei es im Auto­mobil­bau, in der Formel 1, in der boomenden Wind­energie­branche oder in den modernsten Flug­zeug­trieb­werken, denen feine Araldit-Kappen auf den Turbinens­chaufeln das Lärmen abgewöhnen sollen.

Meistens, wenn jemand «Karbon» oder «faser­verstärkter Kunst­stoff» sagt, ist Araldit mit­gemeint – ob in Velos, Wind­turbinen oder Flug­zeugen. Denn Kohle­faser ohne das Harz ist nur ein schwarzer Lappen. Der Kunst­stoff, der dem Werk­stück erst die Form gibt, macht meist etwa ein Drittel des Gewichts der ganzen Konstruk­tion aus. Am «Plastik-Flieger» Boeing 787 sind das stolze 20 Tonnen Araldit.

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