Energieerzeugung
15.09.2019
Gletscher – Eiswüsten und Energiespeicher
Der Rückzug des Eises zwingt Kraftwerke zu gigantischen Investitionen.
Der Triftgletscher im Berner Oberland zeigt am deutlichsten, was der Gletscherschwund in der Schweiz bedeutet. An einer engen Stelle wird das Hochtal heute von der spektakulären Triftbrücke überquert, einer Hängeseilbrücke für Fussgänger, wie sie vor allem in Nepal üblich sind. Jene Stelle war noch vor wenigen Jahrzehnten komplett mit Eis aufgefüllt. Doch mittlerweile hat sich der Gletscher weit zurückgezogen, so weit, dass davor ein grosser Gletschersee entstanden ist.
Die Veränderung der Position der Gletscherzungen wird seit mehr als einem Jahrhundert an über hundert Gletschern genau erfasst – von den Forstämtern, wie Mathias Huss erzählt (siehe Box). Er ist Glaziologe an der ETH Zürich und beobachtet als Leiter des Schweizer Gletschermessnetzes (GLAMOS) die Veränderungen der Schweizer Gletscher. Auf einem Geoinformationssystem verzeichnet er alle Gletscher in der Schweiz (rund 1500): von den riesigen wie dem Grossen Aletschgletscher oder dem Morteratschgletscher bis zu Zwergen, die nicht mehr sind als Schneefelder im ewigen Schatten eines grossen Felsens, der den Schnee – zumindest bisher – nicht schmelzen liess.
Messstellen für die Schmelze, also die Dickenänderung des Eises, gibt es allerdings nur auf zwanzig Gletschern. Deren Resultate werden dann auf die anderen Gletscher in der Schweiz hochgerechnet. Während sich die Förster ursprünglich nur um die Länge kümmerten, interessiert Mathias Huss und sein Team vor allem auch die Veränderung in der Höhe der Gletscheroberfläche, die sogenannte Massenbilanz. «Die Längenänderung sagt nur bedingt etwas aus über den Eisverlust», erklärt Mathias Huss. An einer Kuppe oder einer ohnehin dünnen oder besonders sonnigen Stelle kann sich der Gletscher auch in einem kühlen, regnerischen Jahr sehr schnell zurückziehen. Doch die Änderung in der Masse, die Dicke der Eisdecke, die ist unbestechlich. Und da sind die Verluste riesig. Der Grosse Aletschgletscher verliert auf seiner Zunge jährlich bis zu zehn Meter Höhe. Das Verschwinden des Triftgletschers zeigt ebenfalls eindrücklich, wie dick das Eis an jener Stelle war. Und weil dort der Weg zur Trifthütte des SAC über den Gletscher führte, schmolz auch der Zugang zur Hütte weg. Allein deshalb hängt mittlerweile in dieser Engstelle die spektakuläre Brücke.
Hier war mal Eis. Da wo heute die spektakuläre Triftbrücke zur Trifthütte des SAC über die Schlucht führt, war bis vor wenigen Jahren ein Gletscher.
Trifthütte des SAC zu der Mann über die Triftbrücke gelangt.
Mit dem Verschwinden der Gletscher verändert sich deshalb nicht nur die hochalpine Landschaft, wie Bettina Schaefli von der Universität Lausanne betont. Sie hat als Hydrologin die Auswirkungen der Gletscherschmelze auf die Schweizer Wasserkraft untersucht. Gletscherwasser spielt hier eine wichtige Rolle. Im Einzugsgebiet des Rheins fliesst jeder Tropfen Gletscherwasser im Schnitt durch dreissig Turbinen, bis er schliesslich bei Basel die Schweiz verlässt. Gletscher haben aber noch andere Funktionen für die Kraftwerke. Auf ihnen bleibt der Schnee länger liegen, und sie verzögern so den Abfluss des Schmelzwassers vom Frühling in den Sommer hinein. Dadurch werden der Wassereintrag in Stauseen und die Stromproduktion von Laufkraftwerken besser über die warme Jahreszeit hinweg verteilt. An Orten, wo es keine Gletscher mehr gibt, fällt der grösste Teil des Schmelzwassers in einer sehr kurzen Zeitspanne an. Doch für ein solches Abflussverhalten sind viele alte Stauseen zu klein. Sie müssen entweder sehr viel Wasser ungenutzt buchstäblich den Bach hinunterlassen, oder sie müssen mit gigantischem Aufwand vergrössert werden.
Weil sich die Hydrologie ändert, müssen die Kraftwerke ihre Wasserfassungen anpassen
Das in Gletschern gespeicherte Wasser beträgt in der Schweiz etwa 50 Kubikkilometer. Das ist etwas mehr als die Hälfte des Inhalts des Genfersees von etwa 89 Kubikkilometern und fast zehnmal mehr als das Wasser in allen Schweizer Stauseen zusammen. Drei bis vier Prozent der Schweizer Wasserkraftproduktion stammen laut einer Studie von Bettina Schaefli direkt von geschmolzenem jahrhundertealtem Eis. Wie viel das genau bei einzelnen Kraftwerken ist und wie stark dieser Anteil im Zuge der Klimaänderung zunimmt, versucht im Moment die Universität Bern mit einer Isotopenuntersuchung herauszufinden. Doch die Konsequenzen der Klimaerwärmung gehen über eine zukünftige Reduktion des Wassereintrags hinaus. «Weil sich die Hydrologie ändert, müssen die Kraftwerke ihre Wasserfassungen anpassen», erklärt Bettina Schaefli. Die Fassungen wurden sukzessive seit den 1950er-Jahren gebaut, zu Zeiten, als die Gletscher noch länger waren und die Schneeschmelze sich weit in den Sommer hinzog. Wenn nun im Frühling alles Schmelzwasser aufs Mal anfällt, sind die Wasserfassungen zu klein, und ein grosser Teil der möglichen Energie geht verloren. Das ist umso schlimmer, als die Wasserkraftwerke bei der Energiewende eine entscheidende Rolle spielen sollen.
Allein um den Status quo der gegenwärtigen Produktion zu erhalten, kommen da auf die Schweizer Kraftwerksbetreiber gigantische Investitionen zu. So speist sich der von der riesigen Staumauer Grande Dixence gestaute Lac des Dix aus einem Einzugsgebiet von rund 420 Quadratkilometern mit 35 Gletschern. Das Wasser wird über 75 Wasserfassungen, 5 Pumpstationen und über 100 Kilometer Zulaufstollen in den See geleitet. All diese Anlagen müssen überprüft, durchgerechnet und allenfalls umgebaut werden.
Der Triftgletscher hat sich im Frühling 2019 bereits komplett vom Seeufer des neu gebildeten Triftsees zurückgezogen.
In der Engstelle am Ablauf des neuen Gletschersees planen die Kraftwerke Oberhasli eine neue Staumauer. Der neue Stausee soll die Speicherfunktion übernehmen, die bisher die Gletscher der Region hatten.
Im Delta des Baches im neuen Triftsee siedeln sich sehr schnell Pionierpflanzen an.
Eis bildet beim Schmelzen und Abbrechen bizarre Formationen.
Wo früher einmal Eis war, durchbricht heute der Gletscherbach einen Lawinenkegel.
Das Eis des Gletschers hobelte jahrtausendelang die darunterliegenden Felsen glatt.
Solche Überlegungen macht sich auch die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), die das Wasser aus dem Grimselgebiet verstromt und in deren Einzugsgebiet auch der Triftgletscher liegt. Das Kraftwerkssystem besteht aus acht Seen, dreizehn Wasserkraftwerken und verschiedenen Wasserfassungen und Pumpstationen, die das Wasser je nach Bedarf wie Volleyballspieler in diesen oder jenen See spedieren können. Daniel Fischlin, Direktor der KWO, sieht deshalb immer weitere Bauvorhaben auf sich zukommen. Die Kraftwerkslandschaft im Haslital ist seit 1925 entstanden und wird sich mit der Gletscherschmelze noch einmal massiv verändern. Staumauern müssen erhöht und Kraftwerkszentralen umgebaut werden, und vor allem planen die KWO in jener Engstelle, die nun von der Triftbrücke überquert wird, eine neue Staumauer. Wo früher der Triftgletscher war, soll künftig der Stausee Trift jenes Schmelzwasser speichern, das nicht mehr auf den Gletschern liegenbleibt. Im ganzen Alpenraum werden in den nächsten Jahren verschiedene solche Mulden vom Eis freigegeben und Platz für neue Stauseen ermöglichen.
Doch diese Stauseen werden, wie Daniel Fischlin erklärt, auch andere Funktionen haben. Denn neben der Regulierung des Abflusses halten die Gletscher auch sehr viel Geschiebe zurück. Künftig fallen diese Schutzaufgaben an die Stauanlagen. Die neuen Seen werden deshalb nicht nur Strom produzieren, sondern auch dem Hochwasserschutz dienen und Sand und Geröll zurückhalten. Und in einer immer trockeneren Welt werden sie früher oder später auch der Bewässerung dienen. All diese neuen Aufgaben stehen teilweise in Konkurrenz zur Energieproduktion. Da führt der Rückzug der Gletscher zu völlig neuen Aufgaben. So gibt es vor allem im Wallis sehr alte verbriefte Nutzungsrechte für Wasser, die alle berücksichtigt werden müssen, bevor etwas geplant wird. Diese Rechte sind aber nirgends systematisch erfasst.
Der neue Triftsee wäre eine der ersten Anlagen in der Schweiz mit einer modernen Dreifachnutzung. Die KWO hoffen, bis zum Jahr 2022 eine Baubewilligung zu erhalten und danach die Anlagen im Lauf einer Bauzeit von acht Jahren fertigstellen zu können. Allerdings haben einzelne Umweltverbände bereits Bedenken angemeldet, obwohl sich solche kürzlich von Gletschern freigegebene Gebiete besonders gut für neue Stauseen eignen. Denn dort haben sich noch keine alpinen Ökosysteme gebildet. Und die Stauseen werden künftig noch stärker benötigt zur Erreichung der Klimaziele in der Energiestrategie und auch, um die bestehenden alpinen Ökosysteme zu erhalten.
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GLAMOS macht den Gletscherschwund sichtbar
Der gletscherforschende Förster
Der Bündner Johann Wilhelm Coaz (1822–1918) war vierzig Jahre lang, bis zum Jahr 1914, eidgenössischer Oberforstinspektor. Auf ihn geht die Tradition zurück, dass sich die Forstämter um die Gletscher kümmern. Denn Coaz war auch Bergsteiger und Topograf und zeichnete als Mitarbeiter des Eidgenössischen Topographischen Bureaus unter der Leitung von General Guillaume-Henri Dufour (und als dessen Privatsekretär im Sonderbundskrieg) sieben Blätter der Dufour-Karte.
Johann Coaz war ein begnadeter Netzwerker für einen modernen Umweltschutz. Er verantwortete die ersten Jagd- und Vogelschutzgesetze mit Schonzeiten und Schutzgebieten. Auch das Forstgesetz von 1876, das die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder zur Pflicht machte, ist sein Werk. In einer mehrtägigen «Nationalpark-Lobby-Bergtour» führte er 1911, damals 89-jährig, zwei Bundesräte durchs Unterengadin. Drei Jahre später, 1914, wurde der Schweizer Nationalpark als erster seiner Art in Mitteleuropa eröffnet.