Geschichte

08.09.2021

Die verschollene Orgel der unbekannten «Titanic»-Schwester

Erst seit 2007 kennt man die ganze Geschichte des spektakulärsten Ausstellungs­stücks des Museums für Musikautomaten.

Christian Aeberhard / zVg Museum für Musikautomaten Seewen SO
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Die Britannic-Orgel nimmt im Museum für Musikautomaten in Seewen einen ganzen Raum ein.

Das Orchester der «Titanic» ist legendär. Bandleader Wallace Hartley spielte mit seinen Musikern bis zum letzten Moment. Zehn Tage später fand ein Suchschiff seine Leiche im Wasser treibend, aufrecht in einer Schwimm­weste hängend, mit umgeschnalltem Geigen­kasten mit seiner geliebten Geige drin, einem Geschenk seiner Verlobten.

Salonorchester gehörten zur festen Ausstattung der grossen Transatlantik­dampfer jener Zeit. Sie hatten ein grosses Repertoire und spielten die neusten Hits, um 1912 vor allem Ragtime, jenen Stil, mit dem sich die Musik des schwarzen Amerikas in die Salons der Weissen hinein­schlich. Die Schiffs­musiker waren Könner, schliesslich bedienten sie ein verwöhntes Publikum, entsprechend teuer war der Unterhalt eines Orchesters. Doch die Reederei White Star Line und die Werft Harland & Wolff in Belfast waren schon immer der letzten technischen Innovation auf der Spur, und deshalb schien eine Konzert­orgel eine adäquate Attraktion als Ergänzung oder gar Ersatz für das Bordorchester.

Die Orgel beschallt ein ganzes Schiff

Bei der «Britannic», dem dritten Schiff der nach dem ersten Schiff der Gruppe benannten «Olympic»-Klasse, kam vor allem nach dem Untergang der «Titanic» ein weiteres delikates Problem dazu. Jedes Orchester würde bei den Passagieren unweigerlich die Erinnerung an Wallace Hartley und seine Musiker wachrufen, vor allem, wenn sie die untrennbar mit der «Titanic»-Katastrophe verbundenen Stücke «Näher mein Gott zu dir» oder auch «Alexander’s Ragtime Band» spielten.

Die Britannic-Orgel kann auch von einem Organisten gespielt werden – oder vom über den Manualen sichtbaren Rollenabspielgerät.

Allerdings war der Entscheid für eine grosse Konzert­orgel auf den neuen Schiffen der White Star Line wahrscheinlich schon vor der «Titanic»-Katastrophe gefallen. Denn auch das Deutsche Musik­automaten­museum in Bruchsal besitzt eine ähnliche Welte-Orgel, deren Geschichte nicht bekannt ist, von der aber vermutet wird, dass sie ursprünglich für die «Titanic» bestimmt war. Denn die selbst­spielenden Konzert­orgeln des deutschen Herstellers Welte in Freiburg im Breisgau waren damals der letzte Schrei der Technik. Fest eingebaut im grossen Treppen­haus des Schiffs, würde eine solche Orgel die Rolle des Orchesters weitgehend übernehmen. Sie konnte Tanzmusik genauso gut wie kirchliche Musik am Sonntag spielen, ab Papier­konserve oder von einem lebendigen Organisten. Selbst tief unten in der dritten Klasse wäre sie noch immer gut zu hören gewesen. Zudem hätte die Orgel auf der «Britannic» den Passagieren ein völlig anderes Sound-Erlebnis geboten als das mittler­weile historisch belastete Orchester in einem Schiff, das zwar grösser und sicherer war, aber der «Titanic» zum Verwechseln ähnlichsah.

Für den Orgel­hersteller Welte waren die grossen Schiffe ein interessanter Markt. Das Publikum war nicht nur während ein paar Stunden da, sondern während fünf bis sechs Tagen. Zudem war es bei dem auf dem Nordatlantik häufig schlechten Wetter meist drinnen und hatte kaum etwas anderes zu tun als essen, lesen und Musik hören. Entsprechend gross wäre auch der Bedarf an möglichst vielen Papier­rollen mit unterschiedlicher Musik gewesen.

Der Bau der «Britannic» verzögert sich

1913 gingen in Freiburg die Arbeiten an der «Britannic»-Orgel voran und ebenso an einer zweiten, fast identischen Orgel für das Salomons Estate der britischen Salomons-Familie, der unter anderen der erste jüdische Bürger­meister der Stadt London entstammte. Gleich­zeitig liefen die Arbeiten am Schiff in Belfast buchstäblich aus dem Ruder. Mit dem Untergang der «Titanic» wurden die Arbeiten gestoppt. Der leitende Ingenieur und Schiffbauer Thomas Andrews sowie weitere Spezialisten waren auf der «Titanic» gestorben. Und nun musste das Design der «Britannic» mitten in der Bauphase massiv verändert und verbessert werden. Das Schiff bekam zusätzlich zum doppelten Boden seitlich einen doppelten Rumpf, die wasser­dichten Abteilungen wurden verstärkt und die entsprechenden Schottwände erhöht. Wegen der grösseren Breite gab es leistungsfähigere Maschinen und zusätzlich riesige Rettungs­bootkräne, die bei starker Schlag­seite auch die Boote auf der anderen Schiffs­seite erreichen konnten.

Das alles verzögerte die Fertig­stellung der «Britannic». Der Stapellauf fand schliesslich im Januar 1914 statt. Erst unmittelbar nach Kriegs­ausbruch, im September 1914, als noch nicht klar war, wie lange und wie katastrophal der Krieg werden würde, wurde sie schliesslich ins Trocken­dock geschleppt, um die Propeller zu installieren und sie endgültig fertig zu bauen. Doch dann verschoben sich die Prioritäten. Der Bau kam kaum mehr vorwärts. In Nordfrankreich tobte der Grabenkrieg, potenzielle Auswanderer nach Amerika, von denen das Geschäft mit den grossen Dampfern damals abhängig war, starben zu Hundert­tausenden in Granat­hagel und Giftgaswolken. An Reisen und Luxus war nicht mehr zu denken, an die Installation einer Orgel aus einem Land, gegen das man nun Krieg führte, sowieso nicht.

Verwundete Soldaten statt High Society

Als der von Winston Churchill angestossene Angriff gegen die Türkei auf den Dardanellen für die Briten immer mehr zum Desaster wurde, requirierte die britische Admiralität die «Britannic» und liess sie zum Spital­schiff umbauen. Ab dem 12. Dezember 1915 war sie für Verwundeten­transporte im Einsatz. Fünf Reisen durchs Mittelmeer verliefen erfolgreich. Aber bei der sechsten lief die «Britannic» bei der griechischen Insel Kea auf eine von einem deutschen Minenleger platzierte Seemine. Der Schaden war viel kleiner als die grössten anzunehmenden Unfälle, für welche die «Britannic» nach dem «Titanic»-Desaster ausgelegt war. Aber während des Spital­schiff­betriebs hatte sich eine gewisse Sorglosigkeit eingeschlichen. Selbst in Gefahren­gebieten wurden die wasserdichten Türen nicht mehr präventiv geschlossen, weil das die Arbeit behinderte. Doch nach der Explosion der Mine liessen sich nicht mehr alle Türen schliessen, und das Schiff lief unaufhaltsam voll. Zudem hatte das Pflege­personal gegen alle Befehle die Bullaugen zum Lüften geöffnet. Kaum tauchte das Schiff etwas tiefer ins Wasser, drang durch die vielen offenen runden Fensterchen immer schneller Wasser ein. Auch eine verzweifelte Aktion des Kapitäns, mit voller Kraft auf die nahe Insel Kea zuzufahren und das Schiff da auf den Strand zu setzen, half nicht mehr. Es sank innerhalb von 55 Minuten. Dabei kamen 30 Menschen ums Leben, die meisten in zwei zu früh zu Wasser gelassenen Rettungs­booten, die von den aus dem Wasser tretenden Propellern zerstört wurden.

Die «Britannic» sah der «Titanic» ähnlich, war aber grösser und sicherer. Optisch waren die riesigen Rettungs­boot­kräne der grösste Unterschied. Sie konnten bei starker Schlag­seite sogar die Boote auf der anderen Schiffs­seite erreichen und waren auch ein Statement fürs Publikum: «Seht, wir haben etwas gemacht.» Sie ist am 21. November 1916 unter­gegangen, nach einem Minentreffer und einer relativ kleinen darauf­folgenden Beschädigung, die auch die «Titanic» überlebt hätte.

Mit dem Untergang der «Britannic» war endgültig klar, dass es für die Welte-Orgel keinen Bedarf mehr geben würde. Die Werft verkaufte das bereits fertig­gestellte und sorgfältig eingelagerte Interieur der «Britannic» an Hotels und Gaststätten, und Welte fand im Ingenieur und Musikfreund August Nagel einen Abnehmer für die Orgel. Dieser war der Mitbegründer der Kamera­firma Zeiss-Ikon und hatte den Patronen­rollfilm erfunden, sodass ein 34 Millimeter breiter Fotofilm nicht mehr meter­weise aus einem dunklen Sack in die Kameras gespult werden musste. Die Patronen passten auch in die Konkurrenz­kameras von Leica und Contax und machten Nagel reich, vor allem, nachdem er sein Geschäft an Kodak verkauft hatte. Und wer noch analog fotografiert, macht das höchst­wahr­scheinlich mit den bis heute produzierten Film­patronen von August Nagel.

Versteckt und falsch geschrieben

Als Nagel 1935 sein Haus verkaufte, gab er die Orgel an Welte zurück, und die Firma fand zwei Jahre später für sie eine neue Heimat beim Lampen­fabrikanten Eugen Kersting in Wipperfürth. Welte beauftragte den damals jungen Orgelbauer Werner Bosch mit der Wartung der Orgel. 1969 hörte Heinrich Weiss, der Gründer des Museums für Musik­automaten in Seewen, von einer grossen Welte-Konzert­orgel und konnte sie schliesslich kaufen. Die Orgel wurde nach Seewen trans­portiert, und Heinrich Weiss investierte mehr als 1500 Arbeits­stunden in die Restauration. Werner Bosch wurde engagiert, um das Instrument vor der Inbetriebnahme einzustimmen. Der war von der Rettung «seiner» Orgel so begeistert, dass er Heinrich Weiss 1230 originale Musik­rollen aus dem Nachlass der Firma Welte organisierte.

Erst zwei winzige Hinweise verrieten bei einer Restauration im Jahr 2007 die wirkliche Bestimmung der Orgel.
Gut versteckt im Instrument fand man zweimal den falsch geschriebenen Schiffsnamen «Britanik».

Doch noch immer wusste man nicht, welche Orgel es wirklich war. Das wurde erst im Jahr 2007 klar, als die Orgelbau­firma Kuhn in Männedorf bei einer weiteren Restauration an vier sehr versteckten Stellen die Markierungen «Britanik» fand. Offenbar nahm man es damals bei Welte nur mit der Musik, nicht aber mit den Namen der Kunden genau. Auch im Schwester­instrument im Salomon Centre in Tunbridge gibt es ähnliche Markierungen – und mit «Salomoons» ähnlich falsch beschriftet. So ist die grosse Orgel in Seewen zwar schon 108 Jahre alt. Ihre wahre Bestimmung und ihre ganze Geschichte kennt man aber erst seit 14 Jahren. Und auch Wallace Hartleys Geige ist wieder aufgetaucht – ein damals preiswertes Massen­instrument aus Deutschland, günstig genug, dass sie sich seine Verlobte leisten konnte, und gut genug, um seinen Ansprüchen als Musiker zu genügen. Sie wurde nach einer Odyssee durch viele Dach­kammern schliesslich im Jahr 2013 wieder gefunden und ist seither in einem Museum in Tennessee ausgestellt.

Von den drei Schiffen der «Olympic»-Klasse hat nur das älteste, die «Olympic», überlebt. Sie trans­portierte Truppen, Millionäre und Filmstars, wurde auf dem Nordatlantik von Monster­wellen getroffen – und von einem Torpedo, der nicht explodierte. Sie rammte und versenkte ein U-Boot und rettete Schiffbrüchige. «Old Reliable» wurde sie genannt, die «Alte Zuverlässige». Sie überquerte mehr als 500-mal den Atlantik und wurde schliesslich 1936 in der grossen Wirtschafts­krise verschrottet. Die «Olympic» hatte alles Glück, das der «Titanic» und der «Britannic» versagt blieb. Aber sie hatte nie eine Orgel. Auf ihr spielte das Orchester bis zum Schluss.

Als einziges der drei Schwester­schiffe wurde die «Olympic» sehr alt. «Old Reliable» wurde sie genannt, die alte Zuverlässige. Sie unterschied sich von der «Britannic» und der «Titanic» durch das unverglaste Promenaden­deck unmittelbar unter den Rettungsbooten.

Eine der zuverlässigsten Mitarbeiterinnen auf den drei Schiffen war die Stewardess Violet Jessop. Sie war bei einer Kollision der «Olympic» mit einem Kriegsschiff 1911 mit an Bord, wurde auf der «Titanic» 1912 von einem Offizier als gutes Vorbild mit einem fremden Baby in den Armen in ein Rettungsboot komplimentiert und erlitt beim Untergang der «Britannic» 1916 einen Schädelbruch. Sie war im Krieg als Krankenschwester mit an Bord und befand sich in einem jener Rettungsboote, die von den aus dem Wasser tretenden Schrauben der sinkenden «Britannic» zerschmettert wurden. Nach dem Krieg arbeitete sie wieder, unter anderem auf der «Olympic».
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