Energieanwendung
09.09.2020
Das grosse Gondeln über dem Stau
Selbstfahrende Autos und fliegende Taxis sollen grosse Agglomerationen vor dem Verkehrskollaps bewahren. Doch Luftseilbahnen sind die viel naheliegendere Lösung.
Der Leidensdruck war sehr gross im Verkehrschaos in den Städten Kolumbiens und Boliviens, wo die Elendsquartiere steil den Berg hinaufkriechen. Doch dann kamen die Luftseilbahnen, und der Stau hat sich buchstäblich aufgelöst. Seilbahnen sind deshalb die neuen Stars der Stadtplanung. Allerdings sind Seilbahnen als Standseilbahn schon seit dem 19. Jahrhundert Teil des urbanen Transportwesens, wie Ueli Sutter, Projektleiter beim Goldauer Unternehmen Garaventa, betont. Die Cable Cars in San Francisco und das Funikuljor in Kiew werden heiss geliebt. Und die älteste Standseilbahn ist heute eine moderne Metro. Sie fuhr ab 1877 von Lausanne nach Ouchy an den Genfersee.
Die beiden Schweizer Unternehmen Garaventa und Bartholet stehen an der Spitze eines neuen Trends in der urbanen Mobilität. Bartholet ist ein unabhängiges Familienunternehmen, das sich als kleinstes der drei wichtigsten Seilbahnbau-Unternehmen als Innovationstreiber der Branche positioniert hat. Das Innerschweizer Unternehmen Garaventa fusionierte im Jahr 2002 mit dem österreichischen Seilbahnhersteller Doppelmayr. Doppelmayr/Garaventa ist heute zusammen mit dem Südtiroler Unternehmen Leitner Marktführer im internationalen Seilbahnbau. Die Branche lebt noch immer vom Wintersportgeschäft. Aber mittlerweile sieht sie die Städte als grossen, unerschlossenen Markt. Doch dieser Markt hat die Patentlösung seiner Verkehrsprobleme jahrzehntelang belächelt. Standseilbahnen galten als nostalgisches Kuriosum, Luftseilbahnen als Spielerei und Touristenattraktion.
Die ehemalige Drogenhochburg Medellín in Kolumbien hat mit Gondelbahnen gezielt die Armenviertel hoch oben an den Hängen erschlossen. Das brachte Jobs und bescheidenen Wohlstand.
Lateinamerikas Städte haben das geändert. Die frühere Drogenstadt Medellín in Kolumbien eröffnete 2004 eine erste, ins öffentliche Verkehrsnetz integrierte Linie. Sie erschliesst die Armensiedlungen an den Hängen – mit grossem Erfolg. Die mittlerweile vier Bahnen ermöglichen den Bewohnern der ärmeren Quartiere einen günstigen, schnellen und sicheren Weg zu bisher unerreichbaren Arbeitsstellen. Das Aushängeschild der Branche aber ist Boliviens Hauptstadt La Paz. Hier hat Doppelmayr/Garaventa ab 2014 zehn Seilbahnlinien gebaut.
Die Gondelbahnen haben La Paz komplett verändert. Wo vorher stundenlanger Stau war, schweben die Passagiere in sauberen Kabinen dahin. Der Flughafen in El Alto, auf einem Hochplateau über La Paz gelegen, ist viel einfacher zu erreichen. Wer in El Alto lebt und in La Paz arbeitet, musste früher ein Zimmer im anderen Stadtteil mieten. Der Arbeitsweg dauerte zu lange.
Inzwischen erlebt Lateinamerika einen regelrechten Seilbahnboom. Bartholet baute in Mexiko in den Städten Durango und Puebla, Bahnen aus Flums fahren aber auch in Moskau und in Brest in der Bretagne. Doppelmayr/Garaventa hat einen Auftrag für eine Linie über dem berüchtigten Verkehrschaos von Mexico City. «Offenbar war in Lateinamerika der Leidensdruck grösser als in Europa, sodass schneller Lösungen gebraucht wurden», sagt Ueli Sutter von Garaventa. Doch der Druck ist auch in Europa spürbar, wie das steigende Interesse zeigt. Die kurzen Bauzeiten, hohen Kapazitäten und tiefen Kosten von Luftseilbahnen sind attraktiv. Eine Stütze braucht nur acht Quadratmeter Grundfläche. Dafür reicht der Grünstreifen zwischen zwei Autobahnspuren.
Auch die ökologischen Vorteile sind bestechend. Egal ob Standseilbahn, Luftseilbahn oder Gondelbahn, die Gewichte der Kabinen heben sich in hügeligem Gelände gegenseitig auf. Die talwärts fahrenden Kabinen ziehen die bergwärts fahrenden hoch. Seilbahnen benötigen deshalb viel weniger Energie als Busse oder Trams und nur einen Bruchteil des Verbrauchs von fliegenden Elektrotaxis. Die Kapazität einer Bahn von 3500 Passagieren stündlich in jede Richtung entspricht 140 Bussen oder 4600 Autos. In der gesamten CO2-Bilanz mit Bau, Betrieb und Demontage sind Seilbahnen nahezu unschlagbar. Sie sind gegenüber Bussen schon nach zwei Betriebsjahren ökologischer unterwegs. Über eine Betriebszeit von 30 Jahren beträgt der ökologische Fussabdruck nur ein Viertel des nächstbesten Systems, des Trams.
Die Kapazität einer Bahn von 3500 Passagieren stündlich in jede Richtung entspricht 140 Bussen oder 4600 Autos.
Zudem sind Seilbahnen sehr komfortabel. Der Zugang ist hindernisfrei, keine Schwellen, keine Treppen. Die Fahrt ist ruhig, ohne das ruckelige Stop-and-go des Strassenverkehrs. Passagiere können sich aussuchen, mit wem sie in die Kabine steigen. So müssen sich Frauen nicht mehr begrapschen lassen, wie oft in vollen Bussen. Weil die Topografie keine Rolle spielt, eröffnen sich völlig neue Lösungen. «Wenn wir mit potenziellen Kunden sprechen, haben die sehr viele Aha-Erlebnisse», sagt Daniel Fässer, Head of Sales and Marketing bei Bartholet. «Plötzlich ergeben sich sehr viele neue Möglichkeiten, die sowohl realisierbar wie auch finanzierbar sind.»
Trotz aller Vorteile haben es Seilbahnen in Europa schwer. Maike Puhe, Forscherin für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), hat untersucht, welche Schwierigkeiten bei Seilbahnprojekten aufkommen. Häufig wird befürchtet, eine Seilbahn verschandele die Aussicht. Anwohner mögen auch keine neugierigen Blicke auf Terrassen und in Wohnzimmer. Seltsamerweise ist das in Davos, St. Moritz oder Zermatt kein Problem. Ebenfalls häufig sind Bedenken, dass der Blick auf Baudenkmäler beeinträchtigt wird. Seilbahnplanungen sind zudem oft zeitintensiver als Projekte mit etablierteren Verkehrsträgern, weil es die standardisierten Berechnungsmodelle, auf denen solche Projekte aufbauen, lange nicht gab.
Allerdings hat sich das laut Maike Puhe in den letzten Jahren geändert. «Eisbrecher» war die Seilbahn in Koblenz. Sie wurde 2010 von Doppelmayr/Garaventa als provisorische Demonstrationsanlage für die Bundesgartenschau 2011 auf eigene Rechnung gebaut. Die üblichen Bedenkenträger waren sofort zur Stelle, und das Bistum Trier fürchtete, die Sicht auf die Basilika St. Kastor würde gestört. Doch seit die Bahn läuft, wird sie geliebt und intensiv genutzt, und eine Bürgerinitiative kämpft für den Weiterbetrieb. Ein riesiges ehemaliges Kasernengelände bei der Festung Ehrenbreitenstein bei der Bergstation soll nun zu einem neuen Stadtquartier ausgebaut werden. Doch ohne die Bahn geht das nicht.
Standseilbahnen, wie diese hier in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso, sind seit über 100 :Jahren ein fester Bestandteil des öffentlichen Verkehrs. Die älteste städtische Standseilbahn der Welt, jene zwischen Ouchy und Lausanne, ist heute eine moderne Metro.
Der riskante Weg vom Provisorium zum «Providurium» scheint sich für die Seilbahnhersteller zu lohnen. Leitner hat ebenfalls auf eigene Kosten eine provisorische Bahn gebaut, im Ostberliner Plattenbau-Stadtteil Marzahn für die Internationale Gartenausstellung 2017. Nun soll sie ins Berliner Verkehrssystem integriert werden – auch weil sie das ungeliebte Marzahn stark aufwertet. «Im Gegensatz zu Bussen, Trams und Metros schaffen wir mit einer Seilbahn immer auch eine lokale Attraktion», sagt Daniel Fässer. «Die meisten Anwohner schätzen das nachträglich sehr.»
Die Stoosbahn zeigt, was moderne Standseilbahnen können.
Die Standseilbahn feiert laut Ueli Sutter ebenfalls ein Comeback. Geholfen hat hier die von ihm mitprojektierte neue Stoosbahn mit ihren drehenden, trommelförmigen Kabinen, die international grosses Aufsehen erregt haben. In der steilsten Standseilbahn der Welt sind so die Kabinenböden, aber auch alle Stationen und Zugänge jederzeit horizontal und barrierefrei.
In Deutschland dreht der Wind. Doch in der Schweiz quälen sich die Projekte ewig durch die Instanzen. Die Provisorien von 1939 und 1959 über den Zürichsee wurden abgerissen, ebenso die Seilbahn, die in Basel 1992 sogar in Basler-Tram-Grün über den Rhein fuhr. Der Vorschlag einer mittlerweile dritten Zürichsee-Seilbahn erntete sofort heftige Kritik. Die Erschliessung des Zürcher Zoos mit einer Seilbahn stockt, und neue Basler Seilbahnideen wurden bereits im Frühstadium im Rhein versenkt. Das Land der alpinen Seilbahnen braucht offensichtlich noch einiges mehr an Leidensdruck, bevor es dem Stau davongondelt.
Seilbahnen sind in Lateinamerika schon lange selbstverständlicher Teil einer urbanen Welt.
Die Gondelbahnen in La Paz und Medellin erschliessen die ärmeren Quartiere an den Hängen und bringen die Leute schnell und sicher zu ihren Arbeitsstellen.
Grosse Häuser, schmale Strassen, Seilbahnen sind die Lösung.
Viele Gondelbahnen in Lateinamerika funktionieren wie ein Tram- oder Metronetz.
Die Bahnen sind eine ideale Ergänzung zum Busliniennetz und eine Entlastung für die Strassen.
Die Schweizer Firma Garaventa ist einer der wichtigsten Hersteller von urbanen Gondelbahnen.
Gehänge für grosse Kabinenbahnen haben eindrückliche Dimensionen.
In Brest hat Bartholet eine Bahn gebaut, in der die Kabinen übereinander statt nebeneinander fahren.
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Pioniere am Wetterhorn und in Eritrea
Die erste moderne Seilbahn fuhr 1908 bei Grindelwald am Wetterhorn. Der Wetterhornaufzug musste aber bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs mangels Touristen den Betrieb einstellen und fuhr dann nie mehr. Während des Kriegs entwickelte sich die Seilbahntechnik rasant weiter, vor allem an der Gebirgsfront in Südtirol zwischen dem Habsburgerreich und Italien. Italienische Spezialisten bauten auch in den 1930er-Jahren in Abessinien, dem heutigen Eritrea, eine Seilbahn von der Hafenstadt Massaua am Roten Meer zur auf 2300 Metern über Meer gelegenen Hauptstadt Asmara. Sie wäre mit rund 75 Kilometern noch heute eine der längsten je gebauten Seilbahnen. Ab 1937 transportierten über vier Sektionen 1540 Lastgondeln bis zu 30 Tonnen Material pro Stunde in jede Richtung. Die Fahrt vom Meer über mehrere Täler hinweg dauerte sieben Stunden und erschloss das Ursprungsland des Kaffees mit seinen Plantagen und mit Hunderten von wilden Kaffeesorten. Als das Gebiet 1941 an die tee- und eisenbahnaffinen Briten fiel, konnten diese mit der seltsamen Konstruktion nichts anfangen. Sie demontierten die Anlagen, und heute sind nur noch einzelne Betonfundamente sichtbar.
Standseilbahnen: Spektakel aus der Belle Époque
Standseilbahnen waren die Metros des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie fahren steilste Hänge hinauf und vermitteln sofort Achterbahnkribbeln. Das ist Kino im Kopf, denn die Bahnen fahren meist ziemlich langsam. Doch: «Was wäre, wenn das Seil reisst?» Es reisst nie. Doch Bahnen wie die offene Gelmerbahn im Grimselgebiet schaffen es immer wieder als virale Highlights in die sozialen Medien. Jetzt im Herbst sind sie besonders schön, die technischen Wunderwerke der Belle Époque mit dem gewissen Kick: auf die Schatzalp, Muottas Muragl, den Niesen, den Gurten, zu Madonna del Sasso, auf Parsenn, den Harder, die Heimwehfluh und zu vielen anderen sehenswerten Destinationen.