Energieanwendung

09.09.2020

Das grosse Gondeln über dem Stau

Selbst­­fah­­ren­­de Autos und flie­g­en­­de Taxis sollen grosse Agglo­­me­­ra­­ti­­onen vor dem Ver­­kehrs­­kollaps bewahren. Doch Luft­­seil­­bahnen sind die viel nahe­­lie­­gen­­de­re Lösung.

iStock / Alamy / zVg Garaventa / zVg Bartholet / zVg Stoosbahnen AG, Manuela Gili
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In La Paz haben die seit 2014 er­öff­ne­ten zehn neuen Seil­­bahn­­linien das Ver­­kehrs­­chaos in den Strassen massiv entschärft.

Der Leidens­­druck war sehr gross im Ver­­­kehrs­­chaos in den Städten Kolumbiens und Boliviens, wo die Elends­­quar­­tiere steil den Berg hi­­nauf­­krie­­chen. Doch dann kamen die Luft­­seil­­bahnen, und der Stau hat sich buch­­stäb­lich auf­­ge­löst. Seil­­bahnen sind des­halb die neuen Stars der Stadt­­pla­n­ung. Aller­­dings sind Seil­­bahnen als Stand­­seil­­bahn schon seit dem 19. Jahr­­hun­­dert Teil des urbanen Trans­­port­­we­sens, wie Ueli Sutter, Projek­t­leiter beim Goldauer Un­­ter­­neh­­men Garaventa, betont. Die Cable Cars in San Francisco und das Funi­­kuljor in Kiew werden heiss ge­liebt. Und die älteste Stand­­seil­­bahn ist heute eine moderne Metro. Sie fuhr ab 1877 von Lausanne nach Ouchy an den Genfersee.

Die Drogen­­stadt wird Seil­­bahn­­wunder

Die beiden Schweizer Un­­ter­­neh­­men Garaventa und Bartholet stehen an der Spitze eines neuen Trends in der urbanen Mo­­bi­­li­­tät. Bartholet ist ein un­­ab­­hän­g­iges Familien­­un­­ter­­neh­men, das sich als kleinstes der drei wich­tigs­ten Seil­­bahn­­bau-Un­­ter­­nehmen als In­no­­va­­ti­­ons­­trei­­ber der Branche po­­si­­ti­­o­niert hat. Das Inner­­schweizer Un­­ter­­neh­­men Garaventa fu­si­onierte im Jahr 2002 mit dem öster­rei­chisch­en Seil­­bahn­­her­­steller Doppelmayr. Doppelmayr/Garaventa ist heute zu­­sammen mit dem Süd­­tiroler Un­­ter­­neh­­men Leitner Markt­­führer im in­ter­­na­­ti­­o­nalen Seil­­bahn­­bau. Die Branche lebt noch immer vom Winter­­sport­­geschäft. Aber mitt­­ler­­weile sieht sie die Städte als grossen, un­­er­­schlos­s­enen Markt. Doch dieser Markt hat die Patent­­lösung seiner Ver­kehrs­­pro­­bleme jahr­­zehnte­­lang be­­lächelt. Stand­­seil­­bahnen galten als nos­­tal­gi­sches Kuriosum, Luft­­seil­­bahnen als Spie­­le­­rei und Touristenattraktion.

Die ehe­­ma­lige Drogen­­hoch­­burg Medellín in Kolumbien hat mit Gon­del­­bahnen ge­zielt die Armen­­viertel hoch oben an den Hängen er­­schlos­sen. Das brachte Jobs und be­­schei­denen Wohlstand.

Latein­­amerikas Städte haben das geändert. Die frühere Drogen­­stadt Medellín in Kolumbien er­öff­nete 2004 eine erste, ins öffen­t­liche Ver­­kehrs­­netz inte­grierte Linie. Sie er­schliesst die Armen­­sied­­lun­gen an den Hängen – mit grossem Erfolg. Die mitt­­ler­­weile vier Bahnen er­­mög­­li­­chen den Be­­wohnern der ärmeren Quar­­tiere einen güns­ti­gen, schnellen und sicheren Weg zu bis­her un­er­­reich­­baren Ar­beits­­stellen. Das Aus­­hän­ge­­schild der Branche aber ist Boliviens Haup­t­stadt La Paz. Hier hat Doppelmayr/Garaventa ab 2014 zehn Seil­­bahn­­linien gebaut.

Pendler statt Wochen­­auf­­enthalter

Die Gondel­­bahnen haben La Paz kom­p­lett ver­än­dert. Wo vor­her stun­­den­­langer Stau war, schweben die Pas­sa­giere in sau­beren Kabinen dahin. Der Flug­­hafen in El Alto, auf einem Hoch­p­lateau über La Paz ge­­legen, ist viel ein­­facher zu er­­rei­chen. Wer in El Alto lebt und in La Paz ar­bei­tet, musste früher ein Zimmer im anderen Stadt­­teil mieten. Der Ar­beits­­weg dauerte zu lange.

Das Seil­bahn­sys­tem «Mi Teleférico» (Meine Seil­bahn) ist zu einem Wahr­zeichen von La Paz ge­wor­den. Die Bewohner sind stolz darauf und schätzen die kom­for­table Fahrt in den sau­beren Gondeln.

Inzwischen er­lebt Latein­­amerika einen re­gel­­rechten Seil­­bahn­­boom. Bartholet baute in Mexiko in den Städten Durango und Puebla, Bahnen aus Flums fah­ren aber auch in Moskau und in Brest in der Bretagne. Doppelmayr/Garaventa hat einen Auf­­trag für eine Linie über dem be­­rüch­­tig­ten Ver­­kehrs­­chaos von Mexico City. «Offen­bar war in Latein­­amerika der Leidens­­druck grösser als in Europa, sodass schneller Lö­sun­gen gebraucht wurden», sagt Ueli Sutter von Garaventa. Doch der Druck ist auch in Europa spür­bar, wie das stei­­gen­­de In­te­­resse zeigt. Die kurzen Bau­­zeiten, hohen Ka­­pa­­zi­­täten und tiefen Kosten von Luft­­seil­­bahnen sind at­trak­­tiv. Eine Stütze braucht nur acht Qua­­drat­­meter Grund­­fläche. Dafür reicht der Grün­s­treifen zwischen zwei Autobahnspuren.

Eine Seil­­bahn ersetzt 140 Busse

Auch die öko­­lo­­gischen Vor­­teile sind be­stech­­end. Egal ob Stand­­seil­­bahn, Luft­­seil­­bahn oder Gondel­­bahn, die Gewichte der Kabinen heben sich in hüge­ligem Gelände ge­gen­­seitig auf. Die tal­­wärts fah­­ren­­den Kabinen ziehen die berg­­wärts fah­­ren­­den hoch. Seil­­bahnen be­nö­­tigen des­­halb viel weniger Ener­gie als Busse oder Trams und nur einen Bruch­­teil des Ver­­brauchs von flie­­gen­­den Elektro­­taxis. Die Ka­pa­­zi­­tät einer Bahn von 3500 Pas­­sa­­gieren stünd­­lich in jede Rich­­tung ent­­spricht 140 Bus­sen oder 4600 Au­tos. In der gesamten CO2-Bilanz mit Bau, Betrieb und De­mon­­tage sind Seil­­bahnen nahe­zu un­schlag­­bar. Sie sind gegen­­über Bussen schon nach zwei Be­triebs­­jahren öko­­­lo­­gi­scher unter­­wegs. Über eine Betriebs­­zeit von 30 Jah­­ren be­­trägt der öko­­lo­­gische Fuss­­ab­­druck nur ein Vier­­tel des nächst­­besten Sys­tems, des Trams.

Die Ka­­pa­­zi­tät einer Bahn von 3500 Pas­­sa­­gier­en stünd­­lich in jede Rich­­tung ent­­spricht 140 Bus­sen oder 4600 Autos.

Zudem sind Seil­­bahnen sehr kom­­for­­tabel. Der Zu­­gang ist hin­­der­­nis­­frei, keine Schwellen, keine Treppen. Die Fahrt ist ruhig, ohne das ruckelige Stop-and-go des Strassen­­ver­­kehrs. Pas­­sa­­giere können sich aus­­suchen, mit wem sie in die Kabine steigen. So müssen sich Frauen nicht mehr be­grapschen lassen, wie oft in vollen Bussen. Weil die To­po­­grafie keine Rolle spielt, eröff­nen sich völlig neue Lö­­sun­­gen. «Wenn wir mit po­­ten­­zi­­ellen Kun­den sprechen, haben die sehr viele Aha-Er­leb­­nisse», sagt Daniel Fässer, Head of Sales and Marketing bei Bartholet. «Plötz­­lich er­geben sich sehr viele neue Mög­lich­­keiten, die sowohl realisier­­bar wie auch fi­nan­zier­­bar sind.»

Planer ohne Werk­zeuge

Trotz aller Vor­­teile haben es Seil­­bahnen in Europa schwer. Maike Puhe, Forscherin für Technik­folgen­­ab­­schätzung und System­­analyse (ITAS) am Karls­ruher Institut für Tech­no­logie (KIT), hat un­ter­­sucht, welche Schwie­­rig­­keiten bei Seil­­bahn­­pro­jekten auf­­kommen. Häufig wird be­­fürch­tet, eine Seil­­bahn ver­s­chandele die Aus­­sicht. An­wohn­er mögen auch keine neu­gier­igen Blicke auf Terrassen und in Wohn­­zimmer. Selt­­sa­mer­­weise ist das in Davos, St. Moritz oder Zermatt kein Pr­oblem. Eben­­falls häufig sind Be­­den­ken, dass der Blick auf Bau­­denk­­mäler be­ein­­träch­tigt wird. Seil­­bahn­­pla­­nun­gen sind zudem oft zeit­­in­­ten­­siver als Pro­­jekte mit etablier­­teren Ver­­kehrs­­trä­gern, weil es die stan­­dar­­di­­sie­rten Be­rech­­nungs­­modelle, auf denen solche Pro­­jekte auf­­bauen, lange nicht gab.

Allerdings hat sich das laut Maike Puhe in den letzten Jah­­ren geändert. «Eisbrecher» war die Seil­­bahn in Koblenz. Sie wurde 2010 von Doppelmayr/Garaventa als pro­­vi­­so­­rische De­mons­tra­ti­ons­­an­lage für die Bundes­­garten­­schau 2011 auf eigene Rech­­nung gebaut. Die üblichen Bedenk­­en­­träger waren sofort zur Stelle, und das Bistum Trier fürchtete, die Sicht auf die Ba­si­lika St. Kastor würde gestört. Doch seit die Bahn läuft, wird sie ge­liebt und in­­ten­­siv genutzt, und eine Bürger­­ini­ti­ative kämpft für den Weiter­­betrieb. Ein rie­siges ehe­­ma­li­ges Kasernen­­ge­lände bei der Festung Ehren­breiten­stein bei der Berg­­station soll nun zu einem neuen Stadt­­quar­tier aus­­ge­­baut werden. Doch ohne die Bahn geht das nicht.

Stand­­seil­­bahnen, wie diese hier in der chilenischen Hafen­­stadt Valparaiso, sind seit über 100 :Jah­­ren ein fester Be­stand­­teil des öf­fen­­tl­ich­en Ver­­kehrs. Die älteste städt­ische Stand­­seil­­bahn der Welt, jene zwischen Ouchy und Lausanne, ist heute eine mo­derne Metro.

«Wir bauen lokale Attraktionen»

Der riskante Weg vom Pro­­vi­­sorium zum «Providurium» scheint sich für die Seil­­bahn­­her­­steller zu lohnen. Leitner hat eben­­falls auf ei­gene Kosten eine pro­­vi­­so­rische Bahn gebaut, im Ost­­berliner Platten­­bau-Stadt­­teil Marzahn für die In­­ter­­na­­ti­­onale Garten­­aus­­stellung 2017. Nun soll sie ins Berliner Ver­kehrs­­system in­te­­griert werden – auch weil sie das un­­ge­­liebte Marzahn stark auf­­wertet. «Im Gegen­­satz zu Bussen, Trams und Metros schaffen wir mit einer Seil­­bahn immer auch eine lokale Attraktion», sagt Daniel Fässer. «Die meisten An­wohner schätzen das nach­­träglich sehr.»

Die Stoos­bahn zeigt, was moderne Stand­­seil­­bahnen können.

Die Stand­­seil­­bahn feiert laut Ueli Sutter eben­falls ein Come­back. Gehol­fen hat hier die von ihm mit­­pro­­jek­­tierte neue Stoos­bahn mit ihren dre­­hen­­den, trommel­­för­mi­gen Kabinen, die in­­ter­­na­­ti­onal grosses Auf­­sehen er­regt haben. In der steilsten Stand­­seil­­bahn der Welt sind so die Kabinen­­böden, aber auch alle Stationen und Zu­gänge je­der­­zeit ho­ri­­zon­tal und barrierefrei.

Die Schweiz hat alle Pro­vi­so­rien demontiert

In Deutschland dreht der Wind. Doch in der Schweiz quälen sich die Pro­­jekte ewig durch die In­stan­zen. Die Pro­­vi­­so­rien von 1939 und 1959 über den Zürich­­­see wurden ab­ge­­rissen, ebenso die Seil­­bahn, die in Basel 1992 sogar in Basler-Tram-Grün über den Rhein fuhr. Der Vor­­schlag einer mitt­­ler­­weile dritten Zürich­see-Seil­­bahn erntete sofort heftige Kritik. Die Er­schlie­s­sung des Zürcher Zoos mit einer Seil­­bahn stockt, und neue Basler Seil­­bahn­­ideen wurden bereits im Früh­­stadium im Rhein ver­­senkt. Das Land der alpinen Seil­­bahnen braucht offen­­sich­­tlich noch einiges mehr an Lei­dens­­druck, bevor es dem Stau davongondelt.

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Pioniere am Wetterhorn und in Eritrea

Die erste mo­derne Seil­­bahn fuhr 1908 bei Grindel­­wald am Wetter­­horn. Der Wetter­horn­­auf­zug musste aber bei Aus­­bruch des Ersten Welt­­kriegs mangels Tou­rist­en den Be­trieb ein­­stellen und fuhr dann nie mehr. Wäh­rend des Kriegs ent­­wick­­el­te sich die Seil­­bahn­­technik rasant weiter, vor allem an der Ge­birgs­­front in Süd­­tirol zwischen dem Habs­burger­­reich und Italien. Italienische Spe­­zi­­a­listen bauten auch in den 1930er-Jah­­ren in Abessinien, dem heu­tigen Eritrea, eine Seil­­bahn von der Hafen­­stadt Massaua am Roten Meer zur auf 2300 Me­tern über Meer ge­le­­genen Haupt­­stadt Asmara. Sie wäre mit rund 75 Kilo­­metern noch heute eine der längsten je ge­bauten Seil­­bahnen. Ab 1937 trans­­por­­tier­­ten über vier Sek­ti­onen 1540 Last­­gon­­deln bis zu 30 Ton­­nen Material pro Stun­de in jede Rich­tung. Die Fahrt vom Meer über meh­rere Täler hin­­weg dauerte sieben Stun­den und er­­schloss das Ur­­sprungs­­land des Kaffees mit seinen Plan­­tagen und mit Hun­­der­­ten von wilden Kaffee­­sorten. Als das Gebiet 1941 an die tee- und eisen­­bahn­­affinen Briten fiel, konnten diese mit der selt­­samen Kon­­struk­­tion nichts anfangen. Sie de­mon­­tier­­ten die An­lagen, und heute sind nur noch ein­­zel­ne Beton­­fun­­da­­mente sichtbar.

Stand­seil­bahnen: Spek­takel aus der Belle Époque

Stand­­seil­­bahnen waren die Metros des aus­­ge­­hen­­den 19. Jahr­­hun­­derts. Sie fahren steil­ste Hänge hin­auf und ver­­mitteln sofort Achter­­bahn­­kribbeln. Das ist Kino im Kopf, denn die Bahnen fah­ren meist ziem­­lich lan­­gsam. Doch: «Was wäre, wenn das Seil reisst?» Es reisst nie. Doch Bahnen wie die offene Gelmer­bahn im Grimsel­­gebiet schaffen es immer wieder als virale High­­lights in die sozialen Medien. Jetzt im Herbst sind sie be­son­­ders schön, die tech­­nischen Wunder­­werke der Belle Époque mit dem gewissen Kick: auf die Schatz­­alp, Muottas Muragl, den Niesen, den Gurten, zu Madonna del Sasso, auf Parsenn, den Harder, die Heim­­weh­­fluh und zu vielen anderen sehens­­werten Destinationen.

standseilbahnen.ch

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