Geschichte

08.09.2021

Das digitale Klavier der Belle Époque

Das Museum für Musikautomaten in Seewen (SO) besitzt mehrere der spektakulären Welte-Mignon-Reproduktionsklaviere.

Christian Aeberhard
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Ein Welte Mignon ist ein mechanisch-pneumatisches Kunstwerk. Der Saugbalg (schwarz, rechts im Bild) erzeugt im aufgeschnittenen Rohr mit seinen Ventil­einlässen unter dem Papier­streifen ein Vakuum. Sobald ein Loch das Vakuum unterbricht, spielt das Klavier wie von Geisterhand einen Ton.

Ein grosser Flügel in einem Salon, Klaviermusik, aber niemand sitzt am Instrument. Wie von Geister­hand bewegen sich die Tasten, und es ist nicht Geklimper, sondern perfekte Klaviermusik, oftmals gespielt von den besten Musikern der Zeit, wie Max Reger, Sergei Rachmaninow, Camille Saint-Saëns oder Claude Debussy.

Musikkonserven gab es schon sehr früh, beginnend mit den kleinen Spiel­dosen und den langsam komplexer werdenden Drehorgeln. Doch so ausgefeilt die Geräte waren, sie reihten weitgehend Töne aneinander. 1904 gelang der Firma Welte in Freiburg i. Br., die schon seit Jahr­zehnten Orgeln und Reproduktions­klaviere gebaut hatte, ein grosser Wurf.

Töne und Dynamik

Sie erfand ein Aufzeichnungs­gerät, das nicht nur die Töne aufzeichnete, sondern auch die Dynamik auf eine Papier­rolle übertrug. Damit wurden die einzelnen Töne erst zu richtiger Musik. Welte hat zahlreiche Patente angemeldet. Aber ausgerechnet diese Dynamik­aufzeichnung, die eine Ansammlung von Tönen zur eigentlichen Musik macht, hat die Firma nie patentieren lassen. Man weiss deshalb, dass das Aufnahme­gerät das Klavierspiel Ton für Ton als unterschiedlich langen Strich auf eine Mutter­rolle übertrug. In der Reproduktion wurde dann der Strich als Loch ausgestanzt. Die originale Rolle wurde dann noch auskorrigiert, bis sie den Anforderungen des Pianisten oder der sehr oft auf dem Welte Mignon spielenden Pianistinnen entsprachen. Allerdings wurden oft innerhalb sehr kurzer Zeit sehr viele Stücke eingespielt, und man konnte nicht so detailliert schneiden, wie das heute möglich ist. Aber es kam sogar vor, dass etwa Sergei Rachmaninow nach einer Aufnahme auf eine Rolle schrieb: «Korrigieren Sie das!», und selbst die falschen Töne den Welte-Technikern zur Korrektur überliess, die sie dann abklebten und anders stanzten.

Die Papierrollen des Welte Mignon können Klavier­musik mit all ihren Nuancen digital speichern.

Doch wie genau nun die Löcher auch die Dynamik in die Musik brachten, weiss man nicht. Das originale Aufnahme­gerät in Freiburg wurde bei einem Bomben­angriff im Jahr 1944 zerstört, und die Methode lässt sich nicht mehr rekonstruieren.

Allerdings konnte das Museum für Musik­automaten in Seewen einen unvollständigen, nicht mehr einsatz­fähigen Aufnahme­apparat für Orgelmusik in den USA aufstöbern, der ähnlich funktionierte. Er stand einst in der Welte-Filiale in New York, ging durch verschiedene Sammlerhände, wobei mehrere entscheidende Komponenten verloren gingen. Deshalb ist das Aufnahme­verfahren wahrscheinlich nie mehr rekonstruierbar, auch wenn es immer wieder versucht wird. Und in Seewen ist man sehr nahe dran.

Gestochen scharfe Sicht in eine verschwundene Welt

Dafür ist das Abspiel­verfahren noch immer da. Bei einigen Klavieren ist das Abspiel­gerät nicht sichtbar, bei andern spektakulär beleuchtet. Es gibt aber auch möbelartige Vorsatz­geräte, die an einen normalen Flügel gestellt werden und die dann wie ein Pianist spielen. Ein Elektro­motor treibt eine Vakuumpumpe an, die den Papier­streifen auf eine gelochte Schiene zieht. Bei jedem Loch fällt das Vakuum im System zusammen, und ein Ton erklingt.

Das funktioniert so perfekt, dass selbst Berufs­musiker oft nicht in der Lage sind, eine Einspielung auf dem Welte Mignon von einer modernen digitalen Aufnahme zu unterscheiden. Die Welte-Mignon-Reproduktions­klaviere transportieren so das Klavierspiel einer Zeit, die wir nur aus Schwarz­weiss­bildern und rauschenden Schell­lackplatten kennen, gestochen scharf in die heutige Zeit. Von 1904 bis 1932 entstanden etwa 2500 Klavier­aufnahmen auf dem Welte Mignon. Danach wurden andere Aufnahme­techniken immer besser. Aber auch der Weltkrieg und die Welt­wirt­schaftskrise hatten die wohlhabende Käuferschaft verarmen und schwinden lassen. Und so ist das Welte Mignon heute ein faszinierendes akustisches Fensterchen in eine verschwundene Zeit.

Vier Stunden Welte Mignon auf SRF 2

Auf der Website von Radio SRF 2 gibt es in der Rubrik «Diskothek im Zwei» zwei Sonder­sendungen zum Welte-Mignon-Reproduktions­klavier. Die Sendung gibt faszinierende akustische Einsichten in die Technologie und die Musik, die auf diesem System aufgenommen wurde. Sie zeigt aber auch, wie deutlich anders die Pianisten der Jahr­hundert­wende spielten. Redaktorin Eva Oertle vergleicht mit dem Musik­kritiker Peter Hagmann, dem Pianisten Tomas Dratva und dem Pianisten und Klavier­rollen­spezialisten Manuel Bärtsch Welte-Mignon-Aufnahmen mit modernen Aufnahmen.

Teil 1: Musik von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms und Robert Schumann.

Teil 2: Musik von Frédéric Chopin, Camille Saint-Saëns, Claude Debussy und Franz Liszt.

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